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Jan Grothe, CPO, Deutsche Bahn, im Interview

Jan Grothe, Chief Procurement Officer, Deutsche Bahn AG
Es ist viel passiert, aber wir brauchen mehr Geschwindigkeit

Es ist viel passiert, aber wir brauchen mehr Geschwindigkeit
Jan Grothe, CPO der Deutschen Bahn AG, sprach auf dem Railway Forum in Berlin vor 2800 Experten. Bild: DB AG fotografiert am 25. Februar 2021 in Berlin © Deutsche Bahn AG / Max Lautenschlaeger +49 177 4384167 mail@maxlautenschlaeger.de
Hochkomplexe neue Projekte des Bundes, ausgelastete Lieferanten, Fachkräftemangel: Der Einkauf der Deutschen Bahn ist stark gefordert. Wir sprachen am Rande des Railway Forums Anfang September in Berlin mit Bahn-CPO Jan Grothe über den Stand der Digitalisierung, Probleme beim Datenaustausch mit Externen und über den Bereich Nachhaltigkeit. Welche Kriterien müssen Lieferanten heute schon erfüllen und wie steht es um die ab 2025 geforderten Mindest-Scores?

Das Interview führte für Beschaffung aktuell Sabine Ursel, Journalistin, Wiesbaden.

Beschaffung aktuell: Herr Grothe, im August haben Sie auf dem Railway Forum in Berlin vor 2800 Railway-Experten gesprochen, darunter ein Großteil Lieferanten. Welche Signale und Hausaufgaben haben Sie den Branchenvertretern mit auf den Weg gegeben?

Jan Grothe: Das sind zwei Sinnketten. Zum einen gilt es Vereinbarungen zu schließen und diese rascher umzusetzen. Noch reden wir zu lange. Zum anderen: Unser Anspruch ist es, gemeinsam, flexibel und vernetzt vorzugehen. Das hört sich nach einem Allgemeinplatz an, aber dahinter steht in einigen Fällen jahrelanges Warten, bis Lieferanten – vor allem große – ihre Schnittstellen offengelegt haben. Alle wichtigen Geschäftspartner wissen mittlerweile, dass sie bei künftigen Aufträgen diesen Weg mit uns gemeinsam gehen müssen. Wir selbst fangen jetzt mutig an, Daten mit Externen auszutauschen.

Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz?

Eine große, weil KI eine echte Chance ist. Drei Beispiele: Wir nutzen KI für unser selbstlernendes Kartell-Screening-System. Demnächst wollen wir Lieferanten auf häufig gestellte Fragen KI-gestützt belastbare Antworten geben. Und in Sachen einfache Verhandlungen werden wir im Jahr 2024 erstmals automatisierte Tools einsetzen.

Wie finden das Ihre Lieferanten?

Im Hinblick auf die eben erwähnten Bereiche sind keine Widerstände zu vernehmen. Im Gegenteil. Wichtig ist, dass man transparent erklären kann, wofür Veränderungen gut sind. Viele finden unsere Schritte interessant und fortschrittlich. Wir stellen eine große Offenheit fest. Bei der Datenthematik sind die Lieferanten allerdings sehr vorsichtig. Für uns ist es zum Beispiel wichtig, Produktionssysteme zu vernetzen. Wir wollen beispielsweise bei der Herstellung von Schwellen frühzeitig und automatisiert anhand von Daten aus der Produktion Auffälligkeiten erkennen. Es sollte in Zukunft nicht mehr nötig sein, dass unsere Qualitätsingenieure alle drei Wochen zum Lieferanten fahren. Ziel ist ja auch, mit den knappen Ressourcen der Fachkräfte sorgsam umzugehen. Die wollen wir da einsetzen, wo echter Mehrwert entsteht.

Die Deutsche Bahn will 2023 über 25.000 neue Mitarbeitende an Bord holen. Was braucht der Einkauf – und was ist tatsächlich genehmigt?

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Jan Grothe fordert von den Lieferanten der Bahn ein Nachhaltigkeitszertifikat von Ecovadis.
Bild: DB AG

Es stellt sich eher die Frage, inwieweit Digitalisierung und veränderte Arbeitsweisen auf Anzahl, Aufgaben und die Produktivität unseres Teams insgesamt Einfluss haben. Ziel ist es mit einer ähnlichen, bzw. leicht erhöhten Personallinie durch Automatisierung im operativen Bereich deutlich mehr Transaktionsvolumen zu schaffen und gleichzeitig die strategische Arbeit zu intensivieren. Im Übrigen sind bekanntermaßen nicht beliebig viele Expertinnen und Experten auf dem Markt verfügbar. Seit eineinhalb Jahren erleben wir auch ein aggressives Vorgehen beim Kampf um Fachkräfte, und jetzt sogar um strategische Einkäuferinnen und Einkäufer. Gefragt sind also andere Lösungen, die sich durch Digitalisierung, Prozess- und Beschaffungsmodellveränderungen ergeben. Wir müssen kluge Ansätze finden, wie wir unsere Fachexpertinnen und -experten am sinnvollsten einsetzen und unterstützende Tätigkeiten idealerweise, soweit es geht, automatisieren. Das schafft Freiräume für mehr wertstiftende Arbeit.

Auch Ihre Fachkräfte werden auf dem Markt heftig umworben. In vielen Bereichen ist woanders mehr zu verdienen als im DB-Konzern.

Die Fluktuationsrate bei uns ist absolut im normalen Bereich, dennoch schmerzt jeder Abgang. Sie kennen wahrscheinlich unser Credo: Bindung ist das neue Recruiting. Wer geht, verdient in der Regel woanders mehr, das ist in der Tat derzeit noch der meistgenannte Grund für einen Wechsel. Aber wie wir wird jedes Unternehmen auch damit umgehen müssen, dass Menschen nicht mehr bis an ihr Lebensende bei einem Arbeitgeber bleiben möchten. Wir wollen Gute anziehen, halten und kulturell ein „place to be“ sein. Wir müssen sie aber auch gut begleiten und genau dort punkten wir. Neben interessanten Aufgabenbereichen und einer Warengruppenvielfalt, die ihresgleichen sucht, bieten wir sozialverträgliche Arbeitsbedingungen und eine tolle Kultur in der Beschaffung. Es kommen auch wirklich gute Fachkräfte zu uns zurück, die zwischendurch mal fünf Jahre in die Industrie abgewandert sind. Und seien wir mal ehrlich: Das ist doch das Beste, was einem passieren kann, da diese Mitarbeitenden Neues gesehen haben. Sie bringen zusätzliche Erfahrungen ein, was uns bei der Deutschen Bahn zugutekommt. Geld ist nicht für alle das ausschlaggebende Element. Wir haben daneben viel zu bieten.

Auf dem Railway Forum haben Sie unter anderem den DB Digital Procurement Roundtable gestaltet. Was wissen Sie heute noch nicht von Ihren Lieferanten?

Wir haben in vielen Bereichen Fortschritte gemacht, doch bei den Produktionssystemen brauchen wir mehr Transparenz. Wenn wir in kleinen Schritten tiefere Vernetzung ausprobieren wollen, ist das für viele unserer Lieferanten erst einmal noch kein überzeugendes Argument. Wir müssen und werden das Datenaustauschthema intensiver nachverfolgen und Partnern mittels Anreizsystemen verdeutlichen, dass auch sie durch eine engere Verzahnung Vorteile haben.

Welche Vorteile sind das?

Beispielsweise Zeitersparnis, weil wir ihnen dann nicht mehr alle paar Wochen unsere Qualitätsingenieure auf den Hof und in die Produktion schicken. Das kann aber auch der Status „Preferred Supplier“ sein. Wir können uns dabei einiges von der Automotive-Branche abschauen, wo Verzahnung und Offenheit bereits ausgeprägter sind.

Am anderen Ende der Skala gibt es aber noch eine ganze Reihe Firmen, die erschreckend analog unterwegs sind. Wie gehen Sie mit denen um?

Wir hatten bis vor Covid noch immer 600 Lieferanten ohne eigene E-Mail-Adresse, das sind immerhin knapp drei Prozent unserer etwa 21.000 Partner mit Vertrag und Lieferbeziehung. Digitalisierung sei unnützes Teufelszeug, hieß es da zuweilen. Der Veränderungsdruck ist aber mittlerweile so massiv, dass die meisten Lieferanten dann doch reagieren. Das müssen sie auch, wenn sie die Deutsche Bahn weiterhin als Kunden behalten wollen. Seit der Krise ist viel passiert, auch in den Köpfen.

Was sind die größten Schritte, die Sie zuletzt im Bereich Digitalisierung gemacht haben?

Wir haben unseren internen Marktplatz um Guided Buying erweitert, dafür gab es sehr gutes Feedback. Dann haben wir im End-to-End-Sinne an der Schnittstelle zur Buchhaltung das Thema strukturierte digitale Rechnungen entscheidend nach vorn gebracht. Und auch unser Kartellschadenspräventionssystem ist zum Beispiel ein weiterer Meilenstein. Darüber haben wir ja in der Beschaffung aktuell mit Ihnen schon zu Beginn des Jahres ausführlich gesprochen. Wir haben inzwischen eine gute Datenbasis in unserem „Procurement Lake“, auf der wir kontinuierlich Use Cases aufbauen.

Auf dem Railway Forum zuvor haben Sie – wen wundert’s – das Thema Nachhaltigkeit in den Ring geworfen. Was ist seitdem passiert?

2021 habe ich den Hochlaufplan verkündet, nach dem wir in absehbarer Zeit nicht mehr mit Lieferanten ohne ein Mindestmaß an eigenen Nachhaltigkeitsmaßnahmen zusammenarbeiten wollen. Ein Jahr lang hat es viele böse Briefe gegeben, weil das Vorgehen kritisch gesehen wurde.

Was geben Sie als „Mindestmaß“ an, das Lieferanten zu erfüllen haben?

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Jan Grothe: „Wir bauen Stück für Stück Preisgleitklauseln mit einer fairen Risikoverteilung ein, um astronomische Mondpreise zur Risikovorsorge zu vermeiden.“
Bild: DB AG

Erst 60 und jetzt 80 Prozent unseres Einkaufsvolumen sind von Lieferanten zu erbringen, die ein Ecovadis-Nachhaltigkeitszertifikat vorbringen. Die Anforderung dehnen wir zeitnah auf 95 Prozent aus. Im ersten Schritt müssen sich die Lieferanten auditiert haben. Das ist kein Hexenwerk und kostet nur 400 Euro. Manche dorthin zu bringen, war vor ein paar Jahren noch extrem anstrengend, heute diskutiert keiner mehr lange darüber. Die zweite spannende Diskussion rankt sich um unsere branchenüblichen Mindest-Scores, die wir ab 2025 als Standard fordern. Die werden wir konsequent nachverfolgen, um das Nachhaltigkeitsniveau zu steigern. Im Übrigen betreiben wir im Rahmen der Brancheninitiative „Railsponsible“ Best Practice Sharings im Rail-Sektor und erkennen gegenseitig die Zertifikate unserer Lieferanten an. Das ist eine Riesenerleichterung für alle und verschont unseren Bahnsektor vor unnötiger Bürokratie. Das ist ein echter Schatz für alle Beteiligten und bringt das Thema Nachhaltigkeit mit großen Schritten voran. Und so tendieren auch die bösen Briefe mittlerweile gen null – eine wirkliche Trendwende also.

Die geplanten Vergabemengen bis 2027 hängen maßgeblich auch von Preisentwicklungen ab. Wo und inwieweit bedroht bzw. verlangsamt Volatilität den Fortgang, etwa beim Brückenbau?

Wir sprechen bei diesem Thema gerade intensiv mit dem Bund und den Verbänden. Die Herausforderung: Was denken wir, wie sich die Nachfrage und Preise entwickeln werden? Welche Annahmen auch mit Blick auf Rohstoff- und Faktorkosten oder Kapazitäten legen wir zugrunde? Das war früher einfacher. Man muss heute in der Gesamtkalkulation davon ausgehen, dass in manchen stark nachgefragten Bereichen Preise ohne aktive Marktentwicklung bzw. Nachfrageglättung bis zu 100 Prozent steigen könnten. Hier gilt es am Beispiel der Brücken gesprochen, insbesondere für eine Glättung der Nachfrage zu sorgen, da wo wir es beeinflussen können. Denn wenn Bahn und Autobahn in Deutschland jeweils ihre Nachfrage bei knappem Angebot verdoppeln, wissen sie alle, was passiert. Was bedeutet das für sonstige Risiken? Wir bauen Stück für Stück Preisgleitklauseln mit einer fairen Risikoverteilung ein, um astronomische Mondpreise zur Risikovorsorge zu vermeiden. Das macht uns aber das Leben für die Gesamtplanung nicht wirklich einfacher. Im Konzern müssen wir Szenarien unter Best- und Worst-Case-Betrachtung bilden und diese dann immer wieder entsprechend anpassen.

Sie arbeiten derzeit mit fast 21.000 Lieferanten zusammen und haben zehntausende Vergaben pro Jahr zu managen. Stehen für die vom Bund angekündigten ehrgeizigen Projekte überhaupt ausreichend Kapazitäten bei lieferfähigen Lieferanten zur Verfügung?

Das ist eine der größten Herausforderungen. Die Kapazitäten im Infrastrukturbereich sind bei den hinlänglich bekannten fähigen Bauunternehmen begrenzt. Es gibt nicht viele, die komplexe Hochleistungskorridore über einen längeren Zeitraum hinweg bearbeiten können. Derzeit ist mit der Riedbahn ein Korridor im Bau, die Zahl wird sich auf sechs gleichzeitig pro Jahr steigern. Lieferanten müssen wir also entwickeln. Und wir sind im Austausch mit den bestehenden Lieferanten zur Kapazitätserweiterung und auch mit neuen europäischen Marktteilnehmern, die in Zukunft für unsere Projekte in Frage kommen könnten. In Spanien ist beispielsweise gerade ein Hochleistungsnetz fertig geworden. In Madrid haben wir darum auch einen Lieferantentag abgehalten. Für 2024 und 2025 sind wir auf der halbwegs sicheren Seite, für den weiteren Hochlauf noch nicht. In der Zukunftsinitiative Bahnbau stellen wir zum Beispiel auch die Frage, wie wir unsere Branche gemeinsam attraktiver für Arbeitskräfte machen. Ansonsten verbleiben wir in einem Verdrängungswettbewerb, etwa mit dem Sektor Straße, wenn dort beispielsweise parallel mehrere hundert Brücken ausgeschrieben werden. Wir müssen mit der Industrie Standorte und Zeiträume viel besser koordinieren. Schalungen oder Bautechnik zum Beispiel ließen sich bei guter Planung im Anschluss direkt beim nächsten anstehenden Projekt in regionaler Nähe weiter einsetzen. Fakt ist: Wir brauchen als Sektor in allen Bereichen eine höhere Geschwindigkeit.


Jan Grothe

ist seit rund 23 Jahren bei der DB AG und seit März 2021 als CPO. Zuvor war er zwei Jahre lang Senior Vice President Procurement Infrastructure. Frühere Stationen waren u. a.: Senior Vice President Procurement Strategy + IT-Systems, Head of Supplier Management + Quality Assurance. Vor seiner Zeit bei der Bahn war der heute 50-Jährige Geschäftsführer bei JG Consult, Berlin.


Bahneinkauf in Zahlen

  • Einkaufsvolumen 2023: ca. 29 Mrd. Euro (in Verantwortung von Jan Grothe; Deutschland/Ausland; mit DB Schenker (Indirect Spend))
    Folgejahre (geplant): ca. 31 Mrd. Euro in 2024, ca. 35 Mrd. Euro in 2025, ca. 39 Mrd. Euro in 2026
  • Mitarbeitende 2023: ca. 1300 (inkl. Projektingenieure/-innen, Supplier Quality Manager/-innen)
  • Aktive Lieferanten 2023: ca. 21.000
  • Erwartete Anzahl Bestellungen 2023: ca. 1,1 Mio.
    Folgejahre (erwartet): ca. + 5% in 2024, ca. +10% in 2025, ca. + 20% in 2026

DB-Lieferantenportal: https://lieferanten.deutschebahn.com/lieferanten

Nächstes Railway Forum: Berlin, 3./4. September 2025 

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