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CO2-Emissionswerte entlang der Lieferkette managen

CO2-Emissionswerte entlang der Lieferkette managen
„Verantwortung für die eigene Lieferkette übernehmen“

Mit Sigreen stellt Siemens ein Softwaretool bereit, mit dem CO2-Emissionswerte entlang der Lieferkette managebar werden – einschließlich vertrauenswürdiger Abfrage, Berechnung und Weitergabe realer CO2-Fußabdrucksdaten eines Produktes. Als Erfinder von Sigreen erläutert Dr. Gunter Beitinger, was das Softwaretool aktuell so „einzigartig“ macht und warum sich der Einsatz lohnt.

Das Interview führte Nico Schröder, Korrespondent Beschaffung aktuell, Augsburg.

Beschaffung aktuell: Herr Dr. Beitinger, Sie sagen: „Bis zu 90 % aller CO2-Emissionen der Industrie entstehen nicht bei der Produktion, sondern entlang der Lieferketten.“ Ist das der Impuls und die Ausgangslage gewesen, die Sigreen-Software zu entwickeln?

Dr. Gunter Beitinger: Je nach Wertschöpfungstiefe und Position des Unternehmens in der Lieferkette können mehr als 90 % der CO2-Emissionen außerhalb des eigenen Betriebes entstehen. Das sehen wir beispielsweise hier bei Siemens an unserem Simatic-Portfolio. Natürlich kann der Prozentsatz auch bei 70 % oder 60 % liegen. Wir wollen jedenfalls auf ein entscheidendes Thema hinweisen – und zwar: Verantwortung für die eigene Lieferkette zu übernehmen.

Gros der CO2-Emissionen ensteht in der Lieferkette

Woran liegt es, dass bis zu 90 % aller industrieller CO2-Emissionen in der Wertschöpfungskette liegen? Und was folgt daraus?

Das liegt an den Zukaufteilen, also an den Modulen und Komponenten, die außerhalb des eigenen Einflussbereiches gefertigt werden. Durch die Kaufentscheidung ist man aber durchaus für diese Emissionen verantwortlich. Insofern werden vom Gesetzgeber und der Gesellschaft immer mehr Forderungen laut, dieser Verantwortung bei den Produkten gerecht zu werden.

Auf welche Hürden stoßen Unternehmen bei der Ermittlung des Gros an Emissionswerten?

Zum einen müssen die Informationen vom Lieferanten bereitgestellt werden. Der steht dann meistens vor der gleichen Herausforderung wie man selbst. Die erste Hürde besteht also darin, ob er überhaupt entsprechende Informationen zu den Emissionen liefern kann. Sollte der Lieferant dies lösen können, eventuell durch auf sogenannte Lifecycle-Assessment (LCA)-Daten basierende Berechnungen, kann er eine Abschätzung liefern. Diesen Werten muss man am Ende allerdings vertrauen können. Das wäre gegeben, wenn der Lieferant ergänzend zu den berechneten Werten auch Hintergrundinformationen zu Prozessen, Datenquellen oder Ermittlungsverfahren, also zu seiner Lieferantenstruktur, preisgeben würde oder preisgibt. In der Regel wird er das allerdings nicht tun, da dies seine eigene Wettbewerbsfähigkeit einschränken könnte. Somit steckt man schon im zweiten Dilemma. Sollte das trotzdem gelöst werden – möglicherweise aufgrund von Machtverhältnissen oder Abhängigkeiten – muss man immer noch sicherstellen, dass die Daten, die der Zulieferer dann bereithält, aggregierbar sind. Dahinter steht folgende Frage: Hat der Lieferant wirklich die gleichen Regeln und Methoden angewandt, sodass man die Daten entlang der Lieferkette aufsummieren kann? Das wäre die dritte Hürde, die man nehmen muss.

Produkte CO2-neutral anbieten können

Sehen Sie weitere Herausforderungen?

Es ist sehr aufwendig und die Verfügbarkeit von Expertenwissen spielt eine Rolle. Das ist aber lösbar. Nur diese drei Aufgaben, die mit den erwähnten Hürden verbunden sind, sind essenziell.

Aus dieser Einsicht heraus haben Sie eine Lösung erarbeitet, die nun unter dem Namen Sigreen am Markt verfügbar ist – eben aus dem eigenen Wunsch heraus, die Produkte, die Sie in den Werken fertigen, CO2-neutral anbieten zu können. Wie also schaffen Sie die notwendige Transparenz?

Hier gilt die Regel: Nur, was man misst, was man transparent macht, kann man aktiv beeinflussen. Und nur so lassen sich gezielt Maßnahmen ableiten. Ansonsten ist man im Blindflug. In der Regel werden heute produktbezogene Emissionswerte mithilfe der erwähnten Lifecycle-Assessment-Daten ermittelt. Es handelt sich dabei um in Datenbanken verfügbare Durchschnittswerte. Über einen Dreisatz kann man damit bereits den eigenen CO2-Wert abschätzen. Das ist ein guter Startpunkt – vor allem, wenn das Produkt physisch noch gar nicht existiert und man dies in der Design- beziehungsweise in der Konstruktionsphase machen will, aber keine realen Daten hat. Wenn mein Lieferant noch nicht in der Lage ist, mir Werte zu nennen, kann das ein sehr guter Start sein, weil man damit einen Anker gesetzt hat.

CO2-Emissionen softwarebasiert reduzieren

Inwieweit lassen sich mit Sigreen denn wirklich Emissionen reduzieren?

Von Durchschnittswerten müssen wir zu realen Daten kommen, um Maßnahmen ergreifen zu können, die nachhaltig wirken. Der CO2-Fußabdruck soll nachhaltig gesenkt werden. Entgegnen könnte man, dass in einem Produkt nun so viele Module und Komponenten existieren würden, dass man nicht alle berücksichtigen könne. Hier verweise ich auf das Pareto-Prinzip: 80–20 oder 70–30. Wenn man anfängt, kann man bei 20 bis 30 % der Komponenten 70 bis 80 % der Emissionswerte erfassen und abdecken, wenn man diese Werte beim Lieferanten anfragt. Über die Zeit kann man überlegen, wie weit man das vorantreibt. Man kann zumindest schnell für über 20 bis 30 % seiner Komponenten 70 bis 80 % des CO2-Fußabdrucks entlang der Lieferkette mit Realdaten abdecken und sich durch die gewonnene Transparenz Ziele setzen. Aus den Zielen heraus können Maßnahmen eingeleitet werden, deren Wirksamkeit überprüfbar wird. Diese Wirksamkeit kann durch Sigreen verifiziert werden, da Realdaten verifiziert von Lieferanten übermittelt werden können.

Liegt die Besonderheit von Sigreen gerade in den gelösten Fragen zur Verifizierbarkeit?

Das ist es, was Sigreen an sich so einzigartig macht. Also um vertrauenswürdige CO2-Emissionswerte entlang der gesamten Lieferkette zu verfolgen, brauche ich bestimmte Mechanismen. Dabei geht es um Folgendes: Lieferanten wollen die Datenfreiheit nicht aufgeben und aus Wettbewerbsgründen keine vertraulichen Informationen austauschen. Gleichzeitig muss man diesen Informationen aber vertrauen können, also müssen sie verifiziert sein. Zusätzlich bedarf es der Möglichkeit, anzugeben, nach welchen Methoden diese Informationen zur Verfügung gestellt werden sollen, da Unternehmen beispielsweise nicht allein die Chemieindustrie, sondern auch die Automobilindustrie beliefern. Noch gibt es hier keine universellen Standards, weswegen Informationen entsprechend industriespezifisch weitergeben werden, um aggregierbar zu sein.

Vertrauenswürdige CO2-Emissionswerte entlang der Lieferkette

Welche Rolle spielen Zertifikate und Zertifizierungen bei all dem?

Zertifikate sind für uns so wichtig, weil sie zum einen ermöglichen, dass Informationen weitergegeben werden, die vertrauenswürdig sind, ohne dass Details bekannt werden, ohne dass vertrauliche Informationen weitergegeben werden. Zum anderen können die verifizierbaren Zertifikate, die Verifiable Credentials, wieder zurückgezogen werden, sollte sich im Prozess etwas geändert haben. Die verifizierbaren Zertifikate werden von einer unabhängigen dritten Partei, von Akkreditierern, ausgestellt. Und das passiert über ein sogenanntes dezentrales Netzwerk. Hat ein Zertifikat seine Gültigkeit verloren, kann es mit neuem und verlässlichem Wert ausgestellt und versendet werden. Dem kann man wieder vertrauen – und hat eben die Sicherheit, seinen CO2-Fußabdruck immer aktuell halten zu können. Die Information des CO2-Wertes wird entlang bereits bestehender Geschäftsbeziehungen ausgetauscht, das Zertifikat aber über eine dezentrale Infrastruktur, wo man die Informationen mit Private Keys verschlüsselt und mit Public Keys verifizieren kann, die eben in dieser dezentralen Infrastruktur liegen. Wir nutzen das IDunion-Netzwerk beziehungsweise nennen wir es auch das Estainium-Netzwerk, weil wir dort einen sogenannten TSX, also einen Connector, eine Anbindung entwickelt und zum Patent gebracht haben. Dieser ermöglicht die Verbindung zwischen Sigreen und dem dezentralen Netzwerk, damit die Verifizierungszertifikate ausgestellt werden können. Der TSX – wir nennen ihn Trustworthy Supply Chain Exchange Connector – bildet ein wesentliches Differenzierungsmerkmal zu Lösungen, die wir bisher gesehen haben.

Was ist daten- und workflowmäßig erforderlich, um den CO2-Produktfußabdruck beeinflussen zu können?

Eingangs nutzen Sie eine Materialliste, in der die entsprechenden Detailinformationen zu Gewicht, Dimensionen und weiteren Details vermerkt sind. Auch die Lieferanten sind hinterlegt. Diese Materialliste, die aus unserer Teamcenteranwendung – unserem Backbone für das Engineering – bereitgestellt wird, wird über Sigreen abgegriffen. Anschließend kann man seine Anfrage direkt an die Lieferanten rausschicken, mit der Bitte, den CO2-Fußabdruck zu einem bestimmten Produkt, zu einer gelieferten Komponente zu bekommen. Was man im Vorfeld tun kann, sind erste Lebenszyklus-, kurz: LCA-Berechnungen des CO2-Fußabdrucks, um eine Vorabschätzung und klare Indikation zu haben, auf welche Baugruppen man sich fokussieren sollte, weil sie „CO2-auffällig“ sind. So kann die Reise gezielt beginnen, um ein Produkt umweltfreundlicher zu bekommen. Deswegen sagen wir, es handelt sich um ein Product-Carbon-Footprint-Management-Tool, weil es eben Transparenz sowie Fokussierung und letztlich die Beeinflussung des CO2-Fußabdrucks ermöglicht.

Es wird nicht gang und gäbe sein, dass Lieferanten diese Daten bereithalten.

So ist es. Was wir allerdings sehen, ist ein wachsender Druck seitens Regulierungsbehörden, Interessensgruppen und unserer Gesellschaft allgemein, sodass die Awareness, die Bereitschaft bei den Industrieunternehmen da ist und viele vorbereitet sind. Es hängt aber auch von der Größe eines Unternehmens und davon ab, welche Produkte mit welchen Materialien ausgeliefert werden. Und zusammenfassend: Die Emissionen, die unter der direkten Kontrolle der Unternehmen stehen, also die Scope-1-Emissionen sowie die Emissionen aus der außerhalb des Unternehmens erzeugten gekauften Energie, also Scope 2, sind bekannt. Sie sind erfasst und können offengelegt werden. Damit werden die gesamten Fehler über die Kette bereits geringer und der Anteil an Realdaten erhöht sich. Das ist schon ein Mehrwert, wenn man in die Reise einsteigt. Darüber hinaus werden zunehmend die sogenannten Scope-3-Emissionen erfasst – die Emissionen entlang der Wertschöpfungskette. Vielleicht hat ein Unternehmen auch schon ein Umweltziel kommuniziert. Falls ja, findet man in den Unternehmen bereits Strukturen vor, die eine systematische Ermittlung und Bereitstellung der Daten eben ermöglichen.

Und wenn dem nicht so ist?

Dann sollten die Unternehmen Tools wie Sigreen zur Unterstützung in Erwägung ziehen, da die Erfassung und Analysen dieser Daten und des Energieverbrauchs einschließlich der Endanwendung den Rahmen der manuellen Techniken immer sprengen. Durch den Einsatz geeigneter Softwarewerkzeuge kann sich ein Unternehmen viel Wiederholungsarbeit ersparen, weil Daten systematisch erfasst werden.

Welche Unternehmen können Sigreen einsetzen?

Die industriellen Lieferketten kreuzen sich, teilen sich, drehen Schleifen. Daher ist Sigreen an sich erstmal industrieagnostisch. Auf der anderen Seite können wir als Start-up innerhalb von Siemens, das seit etwa zwei Jahren auf dem Markt ist, nicht alle Industrien gleichzeitig und gleich intensiv bedienen sowie deren spezifische Anforderungen sofort im Detail erfüllen. Aktuell fokussieren wir uns sehr stark auf die Prozessindustrie, die Chemieindustrie, die Automobilindustrie und die Lebensmittelindustrie. Vor allem deren Regelwerke bilden wir heute bereits in Sigreen ab.

Wer sind die Anwender der Sigreen-Software in den Unternehmen?

Einkäufer, Produktmanager, Werkleiter, das General Management sowie das Sustainability Management. Wir stellen diesen Anwendern mit ihren unterschiedlichen Anforderungen bei der Informationsaufbereitung und Darstellung spezifische Bedienermasken zur Verfügung.

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