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Wertstromdesign ohne Sackgassen

Materialfluss optimiert
Wertstromdesign ohne Sackgassen

Nach langen Phasen starker Expansion mit entwickelten Strukturen in Produktion und Logistik helfen häufig keine Justierungen im Detail. Damit Unternehmen weiter gesund wachsen können, ist ein spürbarer Neuansatz erforderlich. Für den Automobilzulieferer Borg Warner Turbo Systems hat sich die Mühe gelohnt.

Als Alfred Büchi im Jahr 1905 sein Patent über die Gleichdruck- oder auch Stauaufladung anmeldete und damit die Grundlage für den modernen Turbolader schuf, hatte der Schweizer ganz sicher keine Patentlösung für komplexe Material- und Informationsflüsse im Sinn. Vielmehr dient der Turbo zunächst der Leistungs- oder Effizienzsteigerung von Kolbenmotoren. Dabei nutzen Turbolader den Druck und die Bewegungsenergie der Abgase. Die Folge ist ein höherer Arbeitsdruck bei gleicher Temperatur im Zylinder. Dennoch: Eine gehörige Portion Leistungs- und Effizienzsteigerung und damit auch mehr Bewegungsenergie hatten die Planer des Automobilzulieferers Borg Warner Turbo Systems im Vorfeld der jüngsten Reorganisation der Produktions- und Logistikstrukturen im Stammwerk Kirchheimbolanden ganz sicher im Sinn, schließlich ist der Hersteller erste Wahl für Aufladesystemlösungen und -komponenten. Mit Aufladesystemen für Pkw, Lkw und Off-Highway-Anwendungen beliefert Borg Warner Turbo Systems namhafte Kunden, darunter unter anderem die drei deutschen OEM BMW, Daimler und Volkswagen, aber auch Hersteller wie Ford/Volvo und Renault.

Mit über 5600 Mitarbeitern ist das Unternehmen an 14 Standorten in zwölf Ländern vertreten. Im Jahr 2011 produzierte Borg Warner über acht Millionen Turbos, davon knapp die Hälfte im pfälzischen Kirchheimbolanden. Damit konnte dieser Hauptproduktionsstandort mit rund 2400 Mitarbeitern den bisherigen Spitzenwert des Jahres 2007 übertreffen. Bis zur Mitte des Jahrzehnts hatte Borg Warner eine sehr starke Wachstumsphase durchlaufen, die die Produktion von rund 500.000 Turboladern Anfang der 1990er Jahre auf über drei Millionen steigen ließ. Neben der Produktion und dem Vertrieb verfügt Borg Warner in Kirchheimbolanden auch über ein Entwicklungszentrum mit umfangreichen Test- und Prüfstandeinrichtungen. Hinzu kommt ein Logistikzentrum. Im 17 500 m2 großen Werk 1 erfolgt die Montage der Aufladesysteme für den Pkw-Bereich.
Die dynamische Entwicklung der vergangenen beiden Jahrzehnte führte allerdings auch zu einem starken Wachstum in den Produktions- und Logistikstrukturen. Über die Jahre hatte sich im Werklayout eine Art Patchwork-Struktur ergeben. Eigentlich zusammengehörende Produktionsbereiche waren an den verschiedensten Stellen im Werk verteilt. Das Ergebnis: hohe Bestände, lange Transportwege, erhebliche Wartezeiten und unnötige Suchzeiten auf Material und Werkzeuge. Gleichzeitig herrschte eine sichtbare Unordnung und Intransparenz auf dem Shop Floor mit gestapelten Gitterboxen und deplatzierten Regalwänden. Diese Produktion „auf Zuruf“ behinderte nicht nur die Fertigungsbereiche, sondern wirkte auch zunehmend negativ in die Logistikabläufe hinein. Sich kreuzende Materialflüsse waren eine negative Begleiterscheinung. So konnte es durchaus vorkommen, dass sich Staplerfahrzeuge und Milkruns auf einem Fahrweg behinderten, der lediglich 2,70 Meter breit war. Auch die Kommunikation der Fahrer und Mitarbeiter untereinander war aufwendig und wenig zielführend.
Alle Erfahrungen und Fakten sprachen daher für einen grundlegenden konzeptionellen Neuansatz. Dabei waren sich die Beteiligten aber durchaus der Gefahr bewusst, „zu schnell ins Detail zu springen“, blickt Dr. Martin Rößing, Manager Prototypenbau bei der Borg Warner Turbo Systems GmbH, auf den Beginn der Neustrukturierung in Produktion und Logistik zurück. Der richtige Ansatz sei dagegen gewesen, zunächst eine „Flächenbilanz“ zu ziehen und dann konkrete Ziele zu formulieren. Dabei war schnell klar, dass alle Maßnahmen auf die Trennung von Fertigungs- und Montagetätigkeiten auf der einen und eine Zusammenführung der zusammengehörenden Bereiche auf der anderen Seite auszurichten waren. Gleichzeitig sollten aber auch Verflechtungen und Abhängigkeiten zwischen einzelnen Bereichen aufgelöst und der Materialfluss erheblich verändert werden. Das Hauptziel: Anstelle des Push-basierten sollte ein Pull-basierter Materialfluss etabliert werden. Dazu gehörte eine Materialversorgung per Milkrun.
Als nächsten Schritt stiegen die Planer in die Analyse der Wertströme ein. Dabei spielte der Leitgedanke der Zusammenführung eine tragende Rolle. Dies galt sowohl für die Fertigung als auch die Montage. So fanden z. B. die sogenannte Rumpfgruppenmontage, das Betriebsauswuchten und die Endmontage für dasselbe Teil bisher nicht im gleichen Werk statt. Bei der Zusammenführung galt es, eine Produktion im Fluss einzurichten. Die Vorteile der Wertstromanalyse vor Ort an der Maschine durch Befragung der Mitarbeiter liegen für Rößing auf der Hand: „Es ist erschreckend, wie wenig man wirklich weiß.“ Es sei daher ganz wichtig, auch aus der SAP-Welt herauszutreten und sich vor Ort ein Bild zu machen, was sich tatsächlich tut. Damit wachse auch das Verständnis für die tatsächlichen Abläufe auf dem Shop Floor. Die weitere Planung bekommt eine solide Grundlage.
Zu der systematischen Analyse gehörte fast selbstverständlich auch die genaue Erfassung aller verwendeten Teile. Anhand von Turbolader-Technologien wurden Produktgruppen abgeleitet und entsprechend untergliedert. Des Weiteren durchliefen die Zyklen und das Leistungsspektrum jeder eingesetzten Maschine eine sorgfältige Prüfung. Völlig losgelöst vom Ist-Zustand wurden diese Maschinen neu zusammengestellt und darauf aufbauend ein Wertstromdesign entwickelt. Daran orientierte sich der Neuaufbau der einzelnen Linien. Erst dann folgte die konkrete Layoutplanung im Detail. Dabei stand der Mitarbeiter im Mittelpunkt, für den klar erkennbar sein sollte, wie die Linie zu betreiben ist. Die wichtigsten Voraussetzungen hierfür sind klare und übersichtliche Strukturen, ein transparenter und gut zu steuernder Materialfluss, aufgeräumte und ergonomisch optimale Arbeitsplätze, aber auch eine helle und angenehme Arbeitsatmosphäre.
Für die Materialzuführung von außen wurde das gesamte Maschinenequipment im Rahmen der Layoutplanung umgestellt. Ziel war, die bisherigen Sackgassen in den Fahrwegen zu beseitigen. An deren Stelle ist eine Umfahrung getreten, die die Beschickung der Fertigung und Montage, aber auch die Einrichtung funktionsfähiger Milkruns ermöglicht.
Doch nicht die Layoutplanung allein war ein Hauptelement für die grundlegende Neuorganisation der Materialflüsse und Fertigungsabläufe. Als ein wichtiger Teil kam die Optimierung auf Basis von lean-basierten Grundprinzipien hinzu. So wurden auf allen neu konzipierten Wegen U-Zellen gebildet. Das Ziel war hier, Produktions- und Logistikbereiche zu trennen. Um die Interaktion zwischen diesen Bereichen zu erleichtern, wurde ein klares Visual Management eingeführt. Auf dem gesamten Shop Floor zeigen verklebte Linienbänder die Aufgabenbereiche oder auch die richtigen Plätze für Behälter an. Die Orientierung erleichtert ein passendes Farbdesign mit gelben, blauen und grünen Streifen für Produktion, Logistik und Entsorgung. Um das Prinzip „Voll gegen Leer“ umsetzen zu können, musste daher auch klar visualisiert werden, wo welche Behälter zu stehen haben. Entsprechende Milkruns sorgen jetzt für den Nachschub und die Versorgung mit den passenden Werkzeugen. Zudem wurden die Gebinde für die Zuführung von außen verkleinert. „Das war ein ganz wichtiges Grundprinzip“, erläutert Rößing. „Wir wollten sämtliche Stapler, egal welche Funktion sie haben, vom Shop Floor verbannen.“ Stattdessen sollte der innerbetriebliche Transport auf geregelte und getaktete Routenzüge umgestellt werden.
Die Veränderung durch die Routenzüge ist deutlich spürbar: „Die Abläufe in der Fertigung sind sehr viel ruhiger geworden. Anstelle des hektischen sternförmigen Staplerverkehrs, wo vieles chaotisch auf Zuruf ablief, haben wir jetzt einen festen Fahrplan“, sagt Rößing. Und: Durch den Transport von bis zu fünf Gebinden und mehrerer Kleinladungsträger (KLT), sowohl voll als auch Leergut, sind die Abläufe deutlich effizienter geworden.
Um die Komplexität so weit wie möglich zu verringern, wurde alles so weit wie möglich standardisiert. Ein Beispiel: Die Vielzahl unterschiedlichster Gestelle, Gitterboxen, Wagen und Ameisen, teilweise mit oder ohne Rollen, widersprach diesem Grundprinzip. Daher enthalten die Milkruns jetzt standardmäßig Kunststoffbehälter in den üblichen Normgrößen 600 x 800 mm und 800 x 1200 mm. Außerdem wurde ein standardisierter Trolley sowohl für Klapp- als auch für Gitterboxen eingeführt, der mit vier Lenkrollen ausgestattet und daher sehr leicht zu bewegen ist. Hier war zu beachten, dass der Mitarbeiter den Zug trotz des teilweise enormen Gewichts auch selbst anschieben kann. So erreichten einzelne Gitterboxen ein Gesamtgewicht von bis zu einer Tonne. Mit den neuen Rollen lassen sich auch solch große Gewichte auf hartem Betonboden relativ leicht bewegen. Darüber hinaus sind keine weiteren Transportmittel mehr erforderlich. Die Gebinde wurden nach Möglichkeit verkleinert. Die neu eingeführten Kunststoffboxen sind nur noch halb so groß wie die alten Gitterboxen. Damit konnte auch entsprechend Platz an den Werkplätzen eingespart werden. „Wir haben unsere gesamte interne Logistik inzwischen auf Kunststoffboxen umgestellt. Intern befinden sich keine fertig bearbeiteten Teile mehr in Gitterboxen“, so Rößing. Als nächsten Schritt sollen auch die Lieferanten auf kleinere Gebinde umgestellt werden.
Diskussionen mit der Logistik ergaben sich wegen der Umstellungen mit Umfahrung und kleineren Gebinden. Drohte an dieser Stelle nicht ein unerwünschter Mehraufwand? Denn die doppelte Zahl an Gebinden muss auch entsprechend gesteuert und an ihr jeweiliges Ziel gebracht werden. Daher wurde versucht, den Aufwand für die Logistik durch den Einsatz neuer Transportmittel und effiziente Buchungsprozesse möglichst zu reduzieren. So kommen jetzt kleine Trailer mit Transportadapter für Läufertrays oder kleine und große Trailer mit Rollwagen für kleine Kunststoffbehälter oder halbe Paletten zum Einsatz. Neu sind auch Etagenwagen für Verdichterräder oder KLT-Ware.
Bis dato galten in der Produktion die Prinzipien des retrograden Nachschubs. Die Versorgung an der Linie erfolgte durch Rückmeldungen nach Stückliste mit Transportaufträgen aus dem Lager. Diese Praxis wurde auf scannerbasierte Verfahren umgestellt. Heute haben die Mitarbeiter an ihren Durchlaufregalen Scanner in Reichweite, mit denen der entsprechende Nachschub nach dem Einscannen ausgelöst werden kann. Alle Eingaben werden in der zentralen Transportlogistik ebenfalls auf einem Scanner verarbeitet und dann entsprechende Transportaufträge ausgelöst. Das Resultat: Die Ablösung manueller Prozesse durch den Scannereinsatz hat die Abläufe wesentlich transparenter und nachvollziehbar werden lassen.
Eine nicht zu unterschätzende Herausforderung war die Umsetzungsphase im Jahr 2012: Immerhin galt es, im laufenden Betrieb den Umzug von nicht weniger als 120 Maschinen im Blick auf den jeweiligen Vorlauf detailliert zu planen und zu vollziehen. Nicht zuletzt waren auf der Kundenseite die notwendigen Veränderungen entsprechend vertrauensvoll zu kommunizieren. Schließlich stand im Werk von Borg Warner Turbo Systems nicht die Einführung neuer Produktionsprozesse auf der Agenda, sondern „nur“ die Reorganisation der Material- und Informationsflüsse. Daher sollten diese Veränderungen den Kunden in Form verbesserter Lieferbereitschaft sogar zugutekommen. Auch die Logistikpartner wurden frühzeitig in die Planungsprozesse einbezogen. Diese konnten dann ihrerseits Standards definieren, die den Planungsteams zur Verfügung gestellt und in die Layoutplanung integriert wurden.
Um der durchaus vorhandenen Skepsis aufseiten der Mitarbeiter entgegenzuwirken, stellten die Planer die Wirksamkeit der Umstellungen in der Produktion und Logistik am Beispiel einzelner „Leuchttürme“ detailliert vor. „Dabei war es für unsere Führungskräfte wichtig, auch loslassen zu können und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten, die auch gut oder besser funktionieren können“, blickt Rößing zurück. Auch vonseiten der Mitarbeiter sei das Feedback inzwischen überwiegend positiv. Heute, so der Manager, erlebt der Besucher bei einem Rundgang durch die Halle „ein völlig anderes Gefühl“.
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