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In Kürze vorab: Rehau hat es geschafft, Einkaufsprozesse zu standardisieren, in einer Sourcing Suite zu digitalisieren und darin eine Generative AI zu integrieren. Diese Gen AI führt Mitarbeiter durch Systeme und stellt verhandelte Konditionen sicher. Sie übernimmt und automatisiert überdies Routineaufgaben im strategischen Einkauf. Und wie überführt man so etwas in die Praxis?
„Pain Points“ – die Ausgangslage
Diese glich dem Status quo in vielen anderen Großunternehmen: heterogene Systemwelt, nur teilweise standardisierte Prozesse (hier über EMEA, Americas, Asia Pacific hinweg) und hoher manueller Aufwand. Nur der Purchase2Pay-Prozess in den ERP-Systemen wurde direkt abgebildet. Der Source2Contract-Prozess lief noch über Excel und E-Mail. Operative Bestellprozesse erfolgten über diverse – nicht ausreichend geschulte – dezentrale Bestellungen in auf Power User ausgelegten SAP-Systemen.
Besteller griffen bei der Beschaffung von Nichtproduktionsmaterial auf verhandelte Konditionen zurück, die teilweise in Excel-Tabellen auf Sharepoint-Seiten abgelegt waren. Oder sie holten sich bis zu bestimmten Wertgrenzen selbst Konditionen ein. Die Einhaltung von Vorgaben ließ sich nur mühsam überwachen. Wenig überraschende Folgen: hohe Maverick-Buying-Quote, schlechte Datenqualität aufgrund des rudimentären Wissenstands der Besteller, niedrige 3-Way-Match-Quote (Bestellung – Rechnung – Wareneingang), Mehraufwand im Bezahlprozess, erschwertes Controlling. Hinzu kamen lähmende Abstimmungsrunden. „Einkauf wurde als Komplexitätstreiber und zuweilen als ‚Feuerlöscher‘ vom Bedarfsträger wahrgenommen und meist auch zu spät eingebunden“, sagt Ingo Krendelsberger. Der Österreicher ist seit 2004 bei Rehau in verantwortlichen Funktionen aktiv, seit 2019 als CPO. „Wir wollten künftig systematisch und zukunftsgerichtet vorgehen. Mitarbeiter sollen sich wertschöpfend für ihre Fachthemen einsetzen können, statt sich administrativ ermüdend abzuarbeiten.“
Neue Prozesse – das Vorgehen
Im ersten Schritt galt es relevante Pain Points zu identifizieren und ein Zielbild der digitalen Transformation der Einkaufsprozesse zu konzipieren.
Nach der Zielbildkonstruktion entschied man sich für die Strategie „Smartification“. Diese setzt auf intelligente Digitalisierung und Prozessoptimierung durch Künstliche Intelligenz und schafft idealerweise die Basis für langfristige Effizienz und Nutzung des Innovationspotenzials. Ingo Krendelsberger und das Team rund um den Projektverantwortlichen Lasse Fehl nahmen das Reengineering der Einkaufsprozesse in der Sourcing Suite von Coupa vor: Bestehende Einkaufsprozesse wurden standardisiert, optimiert und deutlich verkürzt. „Das brachte schon einen Effektivitätsgewinn von 20 Prozent“, sagt Lasse Fehl rückblickend.
Anschließend wurde in Coupa die Generative KI-Lösung askLio integriert – sie automatisiert Routineaufgaben, bietet intelligente Empfehlungen und verbessert die Entscheidungsfindung für die Einkäufer. Die Gen KI kommuniziert in natürlicher Sprache und nimmt so den Bedarfsträger verbal „an die Hand“. Das ermöglicht tatsächliches Guided Buying und die Vereinfachung komplexer Prozessschritte in der User Experience.
Wirtschaftlichkeitsanalyse und Roadmap
Der Business Case sah sieben Hebel für Einsparungen und Wertschöpfung vor: verbesserte Sichtbarkeit und Verwaltung von Ausgaben, vollständig integriertes Vertragsmanagement, Verbesserung der RFQ-Einrichtung und -Verarbeitung, Erhöhung der Ausgaben unter Vertrag, Übertragung von Freitextbestellungen in E-Kataloge, Nutzung der Coupa-Advantage-Plattform und Reduzierung der Rechnungsbearbeitungskosten. Plan: Die jährlichen Einsparungen und die Wertschöpfung übersteigen die Kosten um das 4,5-fache.
Projektphasen und Begleitmaßnahmen
Nach der Freigabe durch Unternehmensleitung und Geschäftsbereiche wurde Anfang 2023 mit Unterstützung von BearingPoint die Sourcing Suite Coupa implementiert – beginnend in Deutschland in zwei Phasen (Source2Contract, Purchase2Receipt) – „um die Einkäufer nicht mit einem Big Bang zu überfordern“, erklärt Lasse Fehl.
Von Beginn an wurden Einkäufer und später auch die Bedarfsträger informiert und sukzessive eingebunden. Hierfür wurde ein Coupa-Kompetenzcenter abseits des Tagesgeschäfts aufgebaut – zwei Mitarbeiter waren maßgeblich an der Implementierung beteiligt, und sie bespielten auch alle Kommunikationskanäle für relevante Stakeholder mit Webseite, Intranet- und Blog-Posts, einer eigenen Einkaufsinfoplattform, Teaser- und Erklärvideos, Onsite-Trainings für Einkäufer, E-Learnings, Pilot-Sessions für Bedarfsträger, Newsletter für Lieferanten, Gewinnspielen etc.
„Mitarbeiter sollen sich wertschöpfend für ihre Fachthemen einsetzen können, statt sich administrativ ermüdend abzuarbeiten.“
Ergebnisse:
- In der Sourcing Suite Coupa werden optimierte Standardprozesse im Einkauf abgebildet, die nun global auszurollen sind. Mit jedem ausgerollten Land/jeder Gesellschaft steigt die globale Transparenz; gleichzeitig sinkt der Effektivitäts- und Effizienzverlust durch zusätzliche Abstimmungsrunden. Das System zwingt zu einem einheitlichen Vorgehen. Fehler werden schneller gefunden.
- Die Gen AI askLio führt die Bedarfsträger bei der Suche gezielt zu vorhandenen Artikeln und Konditionen, liest Angebote aus und erstellt nach wenigen Nachfragen Bestellanforderungen. Die KI übernimmt auch komplizierte Aufgaben, z. B. Warengruppen- und Sachkontenfindung. Die Qualität der Bestellung und der nachgelagerten Pay-Prozesse steigt. Zusätzlich beantwortet askLio Wissensfragen in Sachen Einkauf, Zuständigkeiten, Prozesse und Systeme. Die gewonnene Zeit kann für Fachaufgaben genutzt werden. Maverick Buying zum Umgehen des „Komplexitätstreibers“ Einkauf ist nicht mehr „notwendig“.
- Der Einkauf kann sich voll auf seine strategisch wertschöpfenden Einkaufsaktivitäten fokussieren. Der askLio-Copilot unterstützt mit Preisspiegeln, bei der Lieferantensuche und Vorsichtung von Verträgen, bei Vergleichen, Preiseinschätzungen oder dem Durchsuchen alter Bestellungen. Routineaufgaben, die ein Werkstudent für den Einkäufer erledigen könnte, kann askLio auch oder besser.
- Mit der Einführung von Coupa wurden Aufgaben, für die es bisher zusätzliche Systeme gab, in einer Sourcing Suite vereint. Bis auf wenige ausgewählte „Satelliten“ findet sich jetzt alles Einkäuferrelevante in einem System.
- Rehau erspart sich das Netzwerk der dezentralen Besteller für Nichtproduktionsmaterial und deren Key User. Diese Aufgaben hat jetzt die Gen AI übernommen. Die Anforderer müssen keine „Experten“ mehr in allen Prozessen, Richtlinien und Lieferantenlisten sein.
Nächste Schritte
Rollout und neue Funktionen. Mit der Umsetzung des Projekts im Pilotland Deutschland (steht bei Rehau für 50 Prozent des Einkaufsvolumens) ist der Proof of Concept gegeben. Der globale Rollout erfolgt in mehreren Wellen. Die Systemlösung wird weiterentwickelt. „Wir möchten zum Beispiel für die automatische Dispo der Ersatzteile im SAP-Backend die Preise aus Punchout-Katalogen direkt systemisch zur Verfügung stellen. Zudem soll askLio zukünftig im Longtail-Umfeld bei Freitextanfragen selbstständig Angebote einholen, vergleichen und bis zu bestimmten Wertgrenzen Vergabeentscheide treffen. Die Einkäufer können sich dann auf hochvolumige Ausschreibungen konzentrieren“, betont CPO Ingo Krendelsberger.
Am Planungsprozess Beteiligte
- PUR GPS (interne Abteilung für Prozesse/Systeme Einkauf). Maßgeblich an der Gestaltung der digitalen Prozesse beteiligt; analysierte bestehende Abläufe, identifizierte Optimierungspotenziale und leitete die Implementierung der neuen Systeme
- IT. Stellte Daten und System Know-how bereit; Basis für fundierte Entscheidungsfindung und Bewertung der Digitalisierungsmaßnahmen
- Implementierung. BearingPoint unterstützte als externer Beratungspartner
- Software. Sourcing-Suite-Anbieter: Coupa; Anbieter für Generative KI-Lösung im Einkauf: askLio (2023 ausgezeichnet mit dem deutschen Gründerpreis des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz)
REHAU Industries SE & Co. KG
„Kennzahlen“ 2023
- Anzahl der Beschäftigten: 12.000 weltweit; Deutschland: 4.800
- Jahresumsatz: 2,355 Mrd. Euro; Deutschland: 1,146 Mio. Euro