Startseite » News »

Resilienz in der Supply Chain

Supply Chain Management
Resilienz gibt es nicht auf Knopfdruck

Resilienz gibt es nicht auf Knopfdruck
Was bedeutet Resilienz mit Blick auf die Lieferketten? Bild: Nuthawut/stock.adobe.com
Der Beschaffungsexperte Professor Florian C. Kleemann, Hochschule München, und die SCM-Spezialistin Anna Schmidt, amc-Group, diskutieren, wie Lieferketten weniger anfällig für Störungen werden. In vielen Unternehmen hake es am internen Austausch und durchgängigen Datenfluss.

Seit der Lieferkrise ist Resilienz das Schlagwort im Supply Chain Management. Was bedeutet Resilienz mit Blick auf die Lieferketten?

Florian C. Kleemann: Der Begriff hat seinen Ursprung in der Materialforschung und meint die Fähigkeit auf äußere Einflüsse, wie Störungen flexibel reagieren zu können. Mit Blick auf Lieferketten bedeutet Resilienz, wie schnell ein Unternehmen bei Lieferausfällen in der Lage ist, den Normalzustand, also seine Lieferfähigkeit, wieder herzustellen.

Was ist für ein gutes Störmanagement wichtig?

Kleemann: Eine Balance von Agilität und Robustheit. Es geht um die Frage, wo braucht ein Liefernetzwerk eher Flexibilität, wo Stabilität. In der Globalisierung ging es vor allem um Skalierbarkeit und Standardisierung. Bei Störungen zählt jedoch Beweglichkeit und nicht Starrheit. In der Lieferkrise haben SCM und Einkauf gelernt, mit dieser Balance besser umzugehen, Volumina zu verteilen, alternative Lieferquellen zu erschließen, Zwischenläger aufzubauen, um schneller reagieren zu können.

Professor Florian C. Kleemann, Hochschule München
Professor Florian C. Kleemann, Hochschule München. Bild: HS München

Wie groß sind die Lerneffekte aus der Lieferkrise?

Anna Schmidt: Resilienz ist kein Kurzfrist-Thema und erfordert im Zweifelsfall auch Investitionen, die sich erst in der Krise bezahlt machen. Uns muss bewusst sein, die nächste Krise kommt bestimmt. Der größte Lerneffekt ist die Erkenntnis, dass die Verantwortung für die Lieferketten zu den Unternehmen zurückgekehrt ist. Früher ließ sich zu akzeptablen Kosten schnell ein alternativer Transport realisieren (Firefighting). Heute geht es um die langfristige Optimierung des eigenen Risiko-, Transport-, Bestands- und Lieferkettenmanagement. Sich allein auf den Markt zu verlassen, funktioniert nicht mehr.

Die Liefersituation hat sich entspannt. Warum bleibt Resilienz im SCM wichtig?

Kleemann: Wir leben geo-, finanz- und klimapolitisch in einer neuen Ära. Langfristig zu planen wird immer schwieriger. Viele Unternehmen haben ihr Firefighting optimiert. Das reicht aber nicht, um Risiken proaktiv zu begegnen. Hierfür müssen auch die taktischen und strategischen Prozesse angepasst und die Lücken im Informationsfluss geschlossen werden.

Ist die immer wieder geforderte Ende-zu-Ende Transparenz von Liefernetzwerken überhaupt realistisch?

Kleemann: Dieses Idealbild des Supply Chain Managements umfasst eine sehr breite Perspektive bleibt aber primär theoretisch. In der Realität kann der Mensch nur eine gewisse Komplexität managen. Deshalb ist es für viele Unternehmen bereits ein großer Gewinn, wenn Einkauf, Fertigung, Logistik und Vertrieb ihre Tätigkeiten entlang des Wertstroms zusammenführen. SCM bedeutet übergreifend zu handeln. Notwendigerweise über die Unternehmensgrenzen hinweg, aber dafür sollte zunächst der interne Informationsfluss stimmen.

In der Realität kann der Mensch nur eine gewisse Komplexität managen.Professor Florian Kleemann, Hochschule München

Ist SCM eher eine Aufgabe für die Logistik oder für den Einkauf? Wer sollte den Hut aufhaben?

Schmidt: In vielen Unternehmen hat SCM eine sehr starke logistische Komponente. Im Unterschied zur Logistik geht es beim Supply Chain Management jedoch nicht nur um den Warenstrom, sondern auch um die Informations- und Finanzflüsse. Hierfür müssen Einkauf, Produktion, Logistik und Vertrieb wie ineinandergreifende Zahnräder zusammenarbeiten. Im Mittelstand wird der Einkauf zunehmend in die SCM-Verantwortung genommen. Welche Abteilung den Hut aufhat, ist aus unserer Sicht aber nicht entscheidend. Viel wichtiger ist, dass die Verantwortung klar definiert und kommuniziert ist, wer die Rechte und Pflichten hat einzugreifen, an welcher Stelle die Informationen und Risikodaten zusammenlaufen und von welchen Stellen die Maßnahmen angestoßen werden.

Was sind aktuell die größten Herausforderungen im Supply Chain Management?

SCM-Spezialistin Anna Schmidt, amc-Group
SCM-Spezialistin Anna Schmidt, amc-Group. Bild: amc

Schmidt: Wir sehen bei unseren Kunden vier große Handlungsfelder: 1. die Steuerung von Transporten und Routen. 2. die Optimierung von Verfügbarkeiten und Beständen. 3. die Minimierung von Risiken. Und 4. die optimale Planung von Liefernetzwerken inklusive des Sales & Operations Prozess (S&OP). Der S&OP greift auf der operativen Ebene über kurzfristige Eingriffe, auf der taktischen über die mittelfristige Planung und auf der strategischen über die langfristige Bedarfs- und Szenarienplanung mit allen Abteilungen. Mit einem gut aufgesetzten S&OP Prozess lassen sich unglaubliche Potenziale heben. Grundvoraussetzung für alle Optimierungen im SCM ist die möglichst volle Transparenz über die Supply Chain. Stammdatenharmonisierung, Echtzeitdaten und Single Point of Truth sind hier wichtige Stichworte.

… und bei den Transporten und Beständen?

Schmidt: Das Transportmanagement braucht eine neue Robustheit. Kurzfristige Alternativen sind aufgrund des Fahrermangels, der Einschränkungen beim Schienenverkehr oder anderer Kapazitätsengpässe immer schwieriger zu organisieren. Hinzu kommen die steigenden Kosten und die Anforderungen an den Klimaschutz. Die Bestände wiederum sind seit der Lieferkrise auf einem Höchststand. Parallel steigen die Zinsen und damit die Kosten für das Working Capital. All dies erfordert strategische Abwägungen. Beim Risikomanagement sind wir sehr schnell bei digitalen Lösungen, die helfen, die Störfeuer über eine bessere Datenlage in den Griff zu bekommen.

Mit einem gute aufgesetzten S&OP Prozess lassen sich unglaubliche Potenziale heben.Anna Schmidt, amc-Group

Kleemann: Viele Firmen schöpfen bildlich gesprochen immer wieder das Wasser aus dem Keller, reparieren aber das Dach nicht, durch das der Regen eindringt. Damit der Keller trocken bleibt, braucht es im Supply Chain Management das richtige Verhältnis von strategischen, taktischen und operativen Maßnahmen.

Welchen Fortschritt bringt die Digitalisierung?

Schmidt: Der Informationsfluss im SCM läuft in vielen Unternehmen über Excel und wird mit viel Aufwand manuell gepflegt. Unternehmen, die sich digital besser aufstellen wollen, sollten ihre Prozesse hinterfragen: Wie müssen die Abläufe aussehen, damit die Abteilungen nicht länger nebeneinander, sondern zusammenarbeiten? Welche Informationen braucht das Unternehmen regelmäßig von Kunden und Lieferanten? Wo liegen die größten Probleme, was soll sich ändern? Wenn die Abläufe, Verantwortlichkeiten und Stammdaten zu den Anforderungen passen, kann eine BI-Lösung schon sehr viel bewirken. Es gibt auf dem Markt ansonsten mächtige SCM-Tools, die auf Knopfdruck Szenarien berechnen und planen. Diese Tools erfordern allerdings eine gewisse Investition, lohnen sich also erst ab einer bestimmten Unternehmensgröße.

Welche Kennzahlen bilden die Resilienz eines Liefernetzwerks am besten ab?

Kleemann: Auch wenn es keine klassische Kennzahl ist, so ist eine aussagekräftige Größe, wie lange ein Unternehmen braucht, um bei einer Störung zu evaluieren, welche Auswirkungen der Störfall auf die Wertschöpfungskette hat. Das heißt: Welche Bauteile sind betroffen, welche Produkte, welche Lieferungen, welche Kundenprojekte, inwiefern werden nachgelagerte Prozesse in Mitleidenschaft gezogen? In vielen Unternehmen dauern solche Recherchen mehrere Tage. Handelt es sich um einen Sublieferanten, kann man sich vorstellen, wie lange es dauert, bis sich ein OEM ein vollständiges Bild vom Ausmaß einer Lieferproblematik machen kann.

Schmidt: Klassische SCM-Kennzahlen sind bspw. Lagerumschlag, Kapitalbindung, Service Level, Forecast Accuracy. Das Problem ist die Messung. Wird ein Bauteil nicht geliefert, wird das im Warenwirtschaftssystem oft gar nicht dokumentiert, also lässt sich der Service Level nicht wirklich ausrechnen. Um die Genauigkeit eines Forecasts zu ermitteln, müssen die erzielten Umsätze auf Produkte und Bauteile heruntergebrochen werden. Diese Daten gibt es, aber sie lassen sich nicht zusammenführen. Fehlende Datenharmonisierung, Stammdatenqualität und Medienbrüche sind ein riesiges Thema im Supply Chain Management. Es gilt End-to-End Transparenz anzustreben.

Kleemann_Schmidt.jpg
Professor Florian Kleemann von der Hochschule München und Anna Schmidt von der amc-Group diskutieren darüber, wie Unternehmen ihre Supply Chain resilienter gestalten können.
Bild: amc

Das Gespräch führte Annette Mühlberger.

 

Unsere Whitepaper-Empfehlung
Aktuelles Heft
Titelbild Beschaffung aktuell 4
Ausgabe
4.2024
PRINT
ABO

Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de