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„Der Gedanke des Systemlieferanten ist nicht aufgegangen“

Frank Deiss, Vice President und Leiter Einkauf Mercedes Car Group und Vans, DaimlerChrysler AG
„Der Gedanke des Systemlieferanten ist nicht aufgegangen“

Qualität hängt auch vom Einzelteil ab. Daher setzt Mercedes nicht nur auf Systemlieferanten, sondern auch auf Zulieferer von Komponenten. Dort sind größere Kostenvorteile zu erzielen. Karin Gramatins und Daniel Zabota sprachen mit Mercedes-Einkaufschef Frank Deiss.

Beschaffung aktuell: Herr Deiss, wir haben den Eindruck, dass es um den Einkauf Pkw – im Vergleich zu anderen Einkaufsorganisationen in Ihrem Hause – eher still ist. Ist das richtig?

Frank Deiss: Das hängt davon ab aus welchem Blickwinkel Sie das Thema betrachten. Wir haben in der jüngsten Zeit einige Interviews mit Zeitungen und Zeitschriften geführt, das ergibt dann ein etwas anderes Bild. Ich glaube auch, dass ein Produktionsmaterialeinkauf gut daran tut, nicht immer in der Öffentlichkeit zu stehen. Wir haben sehr klare Ziele, die konkret messbar sind, und ich denke, wir haben uns über das so genannte Core- Effizienzprogramm klare Ziele in puncto Einkaufseffektivität gesetzt. Wenn es dann gelingt, diese zu erreichen, bin ich mir relativ sicher, dass ich da auf einem guten Weg bin. Insofern muss ich nicht ständig in der Öffentlichkeit stehen, um zu beweisen, wie gut der Bereich ist.
Beschaffung aktuell: Ein Mercedes ist das Symbol für deutsche Wertarbeit schlechthin. Beeinflusst das den Einkauf?
Deiss: Tatsache ist, dass die Marke Mercedes-Benz natürlich Premiumqualität braucht. Insofern schauen wir im Einkauf auch nicht nur auf das preisgünstigste Angebot, sondern wir verfolgen die Philosophie der vier Werttreiber: Qualität, Kosten, Belieferungsform und -qualität und logischerweise die Technologie- und Innovationsfähigkeit von Lieferanten um dann in Summe das beste Angebot zu erhalten. Auf der anderen Seite ist auch klar, dass für den Einkäufer Kostenoptimierung und hohe Qualität kein Widerspruch sind. Es gibt genügend Stellhebel um beide Parameter positiv zu beeinflussen, beispielsweise über Standardisierung und Modularisierung.
Beschaffung aktuell: Darf man da überhaupt an Global Sourcing denken?
Deiss: Sie müssen überall in der Welt sicherstellen, dass Sie bestmögliche Qualität bekommen. Am Ende des Tages ist es mir egal, ob ein Zulieferer aus Fellbach oder aus Changchun (Anm. d. Red.: im Norden der Volksrepublik China) kommt. Entscheidend ist die Performance anhand der vier Werttreiber. Deshalb gibt es bei uns im Einkauf keinerlei Quotenziele hinsichtlich Einkauf in Emerging Markets. Aber gemessen am gesamten Einkaufsvolumen ist es noch zu wenig. Das heißt, wir nehmen noch zu wenig die Faktorkostenvorteile dieser Länder mit.
Beschaffung aktuell: Womöglich ist ja der Lieferant aus Changchun besser als der in Fellbach, nur steht bei dem einen „Made in China“ drauf. Ist das einem Mercedes-Kunden zuzumuten?
Deiss: Lassen Sie mich das folgendermaßen erklären: Wir haben in China mit der Fertigung der E-Klasse und ab 2007 auch der C-Klasse begonnen, mit erklecklichen Stückzahlen. Es ist auf jeden Fall klar, dass wir dort, um Local Content zu erzielen, chinesische Zulieferanten brauchen. Wenn nun einer davon für die lokale Produktion der richtige ist, werden wir auf jeden Fall in einem zweiten Schritt prüfen, ob es eine Möglichkeit gäbe, auch deutsche Werke zu beliefern. Vorausgesetzt, Qualität und Preis passen und unter Berücksichtigung der Logistikkosten, die im Falle Chinas immer eine ganz gewaltige Rolle spielen.
Da viele der deutschen Zulieferer bereits Dependancen in China haben, wird da auch nicht „Made in China“ drauf stehen. Klar ist auch, dass wir nicht bereit sind, jedes Teil in China zu sourcen.
Beschaffung aktuell: Sie wollen vor allem mehr in Indien und China einkaufen. Stimmt das?
Deiss: Nein, wenn ich an neue Beschaffungsmärkte denke, dann zunächst einmal an Osteuropa. Dort sind ähnliche Traditionen vorhanden, dort sind mehrheitlich unsere traditionellen Zulieferer vor Ort, die in Osteuropa Fabriken eröffnet haben. Gerade die neue C-Klasse zeigt, dass wir in der Lage sind, einen erheblichen Anteil aus Osteuropa zu sourcen, ohne Gefahr zu laufen, eine andere Qualität zu bekommen. Es gibt dort günstige Logistikkosten, den Schutz der Intellectual Property und ein sauberes Rechtssystem – macht alles zusammen einen Schwerpunkt-Beschaffungsmarkt. Aber es ist auch klar: Die Zeit läuft weiter und wir müssen Indien und China auch auf dem Radarschirm haben.
Beschaffung aktuell: Gibt es in Osteuropa einen Schwerpunktmarkt?
Deiss: Das sind im Prinzip unsere „Nachbarstaaten“ wie Polen und Ungarn, aber auch die Länder der Zukunft wie Ukraine und Russland.
Beschaffung aktuell: In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Baureihen bei Mercedes explodiert. Was bedeutet das für den Einkauf?
Deiss: Sie sprechen die Teilevarianz an. Für den Kunden ist es vorteilhaft, wenn er eine aus Gründen der Individualisierung große Angebotspalette hat. Das Außendesign ist aber nur die eine Seite. Andererseits kann man unter der Motorhaube durchaus Teile finden, die sich vereinheitlichen lassen. Das ist die große Herausforderung. Für den Einkauf geht es immer auch darum, Volumen zu bündeln. Das tun wir seit Jahren. Wir haben mit den Chrysler- und MCG-Kollegen Teilefamilien gefunden, die sich standardisieren lassen. Hier haben wir noch immer Nachholbedarf. Innerhalb der nächsten Jahre werden wir innerhalb der Mercedes Car Group einen kompletten Modulbaukasten haben, wodurch wir noch weitere Skaleneffekte erzielen werden.
Beschaffung aktuell: Gerade der Mercedes-Kunde will ja nicht, dass in seinem Auto das Gleiche ist wie im Chrysler.
Deiss: Dazu wird es nicht kommen. Es wird keine gemeinsame Plattformen geben, es gibt aber Potenzial bei einzelnen Komponenten, zum Beispiel Umfänge aus der Sitzstruktur oder gemeinsame Schlösser. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Kunde damit ein Problem hat. Der Modulbaukasten bezieht sich ohnehin nur auf Mercedes.
Beschaffung aktuell: Sourcen Sie denn überhaupt noch Komponenten, sagen wir von Tier-x-Zulieferern – wir dachten Sie kaufen nur noch Systeme, wie zum Beispiel komplette Sitze.
Deiss: Nein eben nicht. Auch dort gehen wir einen anderen Weg als die Wettbewerber. Der ursprüngliche Gedanke des Systemlieferanten ist am Ende nicht aufgegangen. Zumindest für uns nicht. Wir haben festgestellt, dass die Verantwortung, die wir an Lieferanten übertragen haben, zum Teil nicht eingelöst wurde. So konnten wir auf einer Second-Tier-Ebene deutlich größere Kostenvorteile erzielen. Mehrheitlich kaufen wir daher auf einer Komponentenebene ein. Oder wir schreiben gegenüber unseren First-Tier-Lieferanten fest, wo sie Teile ordern müssen.
Beschaffung aktuell: Die Zulieferer beklagen sich, dass der Druck der OEM weiter zunehmen werde. Müssen auch die Mercedes-Zulieferer einen Beitrag zur Kostensenkung leisten, um es mal vornehm auszudrücken?
Deiss: Das höre ich seit 20 Jahren. Es ist doch so: Beim Thema der Fertigungsmaterialoptimierung wird es wohl kaum je mehr eine Phase geben ohne anspruchsvolle Kostenreduzierungsziele. Lassen Sie mich daher umgekehrt beginnen: Auch der Wettbewerbsdruck auf die OEM hat stark zugenommen. Schauen Sie sich die Mercedes Car Group an und wie viele Hersteller sich in diesem Segment inzwischen tummeln. Dramatische Wachstumsraten wird es nicht mehr geben. Wir arbeiten unter sehr starkem Wettbewerbsdruck und müssen daher auch unsere Kostenstruktur massiv verbessern, was uns seit zwei Jahren mit dem Core-Effizienzprogramm auch gut gelungen ist. Nicht nur bei den Fertigungs- und Materialkosten, sondern auch bei unseren eigenen Kosten, der Fertigung und so weiter. Das sehen sie auch an unserer Bilanz. Der andere Punkt ist, dass wir ein klares Orientierungssystem als Richtschnur haben, was Fertigungsmaterialkosten angeht, und zwar auf der Komponentenebene. Darüber verfügt, soweit ich weiß, keiner unserer Wettbewerber. Wir haben zwei Arten der Kalkulation, die Supplier-Related-Calculation (SRC) und die Reference-Calculation (REC). Mit der SRC kann ich den heutigen Zulieferer sozusagen simulieren und berechnen, was ein Teil beim jeweiligen Zulieferer, in seiner heutigen Fertigungsstätte, kosten dürfte. Der nächste Schritt ist die Referenzkalkulation. Wenn wir glauben, ein bestimmtes Teil lasse sich anderenorts fertigen, dann rechnen wir das mit optimalen Prozessen durch. Das heißt dann: Darunter geht es nicht. Diesen Prozess haben wir für 80 Prozent unseres Fertigungsmaterials durchgeführt. Das Ergebnis ist ein Korridor, in dem sich mein Einkaufsbereich bewegt. Daraus leiten sich die Materialkostenziele meines Bereiches ab und die meiner TopLieferanten.
Beschaffung aktuell: Einer Ihrer Kollegen sprach kürzlich von einer Fertigungstiefe von 20 Prozent, auch 10 Prozent wurden schon realisiert. Wo will Mercedes hin?
Deiss: Es ist nicht das Ziel die Fertigungstiefe weiter zu verändern. Da sind wir zur Zeit bei Mercedes auf einem guten Level angelangt.
Beschaffung aktuell: Wie hoch wird das Einkaufsvolumen der Mercedes Car Group 2007 sein? Mit welcher Tendenz?
Deiss: Konzernweit lag es 2005 bei rund 85 Milliarden Euro.
Beschaffung aktuell: Hat Ihr Einkauf die nötige Macht, oder, sagen wir, das Mitspracherecht, z. B. bei der Produktentwicklung, Teilestandardisierung oder Prozessoptimierung?
Deiss: Ich fühle mich da sehr gut aufgehoben. Sie wissen, dass der Einkauf bei DaimlerChrysler unter Thomas W. Sidlik ein Vorstandsressort ist. Dadurch haben wir genügend Gehör im Zentralvorstand. Zudem haben wir durch Core auch einen sehr engen Schulterschluss mit der Entwicklung vorgenommen. Wir haben in vier Jahren alle Komponenten analysiert – bis zur letzten Schraube. Diese Analyse lief immer als Doppelspitze: ein Konstrukteur, ein Einkäufer. Das war Teamarbeit, die hervorragend funktioniert hat. Am Ende zählte das beste Ergebnis. Ich sehe den Einkauf in einer sehr gestaltenden Rolle und als denjenigen, der diese Themen antreibt und kritische Fragen stellt. Ich fühle mich also durchaus wohl und wertgeschätzt.
Beschaffung aktuell: Welche Erfolge konnten Sie in den vergangenen Monaten und Jahren mit dem Einkauf realisieren?
Deiss: Wir haben unsere Materialkostenziele 2006 übererfüllt. Ich habe außerdem ein Effizienzprogramm aufgesetzt, das intern darauf abzielte, im gesamten Bereich Operational Excellence zu erreichen. Das war ein großer Stellhebel, um den Einkauf effizienter zu machen.
Beschaffung aktuell: Welche besonderen Qualitäten erwarten Sie von einem Einkäufer persönlich?
Deiss: Wir haben heute eine gute Mischung zwischen technischen und kaufmännischen Absolventen. Gutes Englisch ist ein Muss ebenso wie ein Höchstmaß an Flexibilität und an Engagement. Und logischerweise muss man konfliktfähig sein, ohne ein Betonkopf zu sein, letztlich wird Kompromissfähigkeit groß geschrieben.
Beschaffung aktuell: Wie viele Einkäufer haben Sie?
Deiss: 700 inklusive des Van- und Smart-Einkaufs.
Beschaffung aktuell: Gibt es Ihrer Meinung nach einen „Megatrend“ für Beschaffung und Einkauf der Zukunft?
Deiss: Ich sehe derzeit vier: erstens den Einkauf in Emerging Markets, also das Thema, wie man diese Faktorkostenvorteile noch besser ausschöpfen könnte. Zweitens Risk Management. Vor dem Hintergrund der noch nicht finalisierten Restrukturierung in der Branche und der erheblichen Insolvenzen ist es notwendig präventiv tätig zu sein. Das betrifft auch die Zusammenarbeit mit anderen OEMs. Drittens weitere Materialkostenoptimierung und viertens die Modularchitekturen innerhalb der Mercedes Car Group, um mittelfristig noch zusätzliche Skaleneffekte zu erzielen.
Beschaffung aktuell: Herr Deiss, wir danken für dieses Gespräch.
Wir haben in vier Jahren alle Komponenten analysiert – bis zur letzten Schraube. Diese Analyse lief immer als Doppelspitze: ein Konstrukteur, ein Einkäufer.
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