Startseite » Einkauf »

Wenn es zwischen Baustelle, Fachabteilungen und Einkauf hakt

Kostenfalle Großinvestitionen
Wenn es zwischen Baustelle, Fachabteilungen und Einkauf hakt

Wenn es zwischen Baustelle, Fachabteilungen und Einkauf hakt
„Wir erleben bei zahlreichen Großinvestitionen, dass die Auftraggeber zu spät die Unternehmensperspektive einnehmen“, urteilt René Schumann, CEO der Negotiation Advisory Group. So würden Unternehmen viele Möglichkeiten für Ansprüche nicht erkennen und professionell einfordern. Bild: Wellnhofer Designs/stock.adobe.com
Trotz Rohstoffverteuerung, brechender Lieferketten und drohender Rezession planen viele Unternehmen Großinvestitionen. Doch während sie bei der Beschaffung genau auf die Kosten achten, laufen ihre komplexen Großprojekte häufig preislich aus dem Ruder. Was tun?

Ein typischer Fall. Ein schnell wachsendes mittelständisches Familienunternehmen mit dreieinhalb Milliarden Euro Umsatz will seine Kapazitäten ausweiten und plant den Bau eines neuen Produktionswerks mit Hilfe eines Generalunternehmers (GU) im nahen Ausland. Der Einkauf führt eine normale Ausschreibung (RfQ) durch. Danach vergehen einige Monate bis zur Beauftragung. Inzwischen haben die angefragten GU – nicht ganz überraschend – die Preise massiv erhöht. Der banale Fehler: Der Einkauf hatte erstmal nur unverbindliche Preisindikationen abgefragt, aber kein Preis-Kommittent vereinbart. Also stimmte die ganze Kalkulation für das Großprojekt (Volumen mehr als 50 Millionen Euro) nicht mehr. Dies war für den Vorstand Anlass, uns hinzuzuziehen.

Generalunternehmen verdienen am meisten beim Nachtragsmanagement

Fehlendes Preis-Kommittent bei der Ausschreibung ist aber nicht das einzige Versäumnis, wodurch Unternehmen bei Großprojekten häufig in der Kostenfalle landen, sondern schlecht ausgehandelte Verträge. Um den Auftrag zu bekommen, kalkulieren die GU den Preis nämlich meist sehr knapp. Ihr Verdienst liegt in der Regel im Nachtragsmanagement, also den im Verlauf eines komplexen Großprojekts immer entstehenden Detailveränderungen gegenüber dem ursprünglichen Auftrag. Hier wird es dann richtig teuer. Ein typisches Beispiel: Weil einige Rohre einer neuen Anlage aufgrund von technischen Veränderungen um einige Zentimeter größer sein mussten, stellte der GU für diese Teile gegenüber dem RfQ einen um 60 Prozent höheren Preis in Rechnung.

Wegen der Energie-, insbesondere der Gasverteuerung geraten viele Unternehmen bei ihren Großinvestitionen unter enormem Zeitdruck. Sie wollen die Gasabhängigkeit reduzieren, die neuen Energien ausbauen und planen neue Heizungsanlagen, Trocknungsanlagen oder neue Lackieranlagen. Und weil die Kosten für Personal, Logistik und Rohmaterialien steigen, haben sie mit Mehrpreisforderungen zu kämpfen. Wenn sie sich den Problemen nicht aktiv stellen, laufen sie in gewaltige Mehrkosten – oder aber die Baustelle steht still. Unter dem Termindruck geben die meisten Unternehmen dann gewöhnlich nach. Ist der Auftrag vergeben, haben sie ohnehin kaum Verhandlungsmacht mehr, der GU ist dann in der Position eines Quasimonopolisten und holt für sich heraus, was herauszuholen ist. Solche Verteuerungen machen nach unserer Erfahrung zwischen 30 und 60 Prozent des ursprünglichen Preises aus.

In der Regel bauen die Unternehmen nicht selbst, sondern haben dafür Architekten und Bauingenieure angeheuert, die auch den RfQ durchführen. Nur haben diese Experten oftmals nicht den Blick dafür, was die Unternehmen im Verlauf des Baus noch ändern können müssen. Deshalb sollte man schon beim RfQ in Szenarien alle möglichen Änderungen

bei den Gewerken durchspielen, die im Projektverlauf noch vorkommen können, und sie für das Nachtragsmanagement im Vertrag festhalten. Wir nennen das den Change-Management-Katalog. Damit lassen sich zwar nicht hundert Prozent aller Eventualitäten abdecken, jedoch der Großteil. Unsere Regel: Je genauer die möglichen Gewerke im Vertrag spezifiziert werden, umso geringer ist der Hebelfaktor für Mehrpreisforderungen durch den GU nach der Vergabe.

Dem Generalunternehmer positive und negative Anreize setzen

Wichtig ist zudem, eine verbindliche Zeitleiste zwischen Anfrage, ersten Preisindikationen und verbindlichen Preisangaben sowie dem Start- und Endtermin zu definieren. Der Vertrag mit dem GU sollte hier positive und negative Anreize setzen, damit er aus eigenem Antrieb versucht, einen Rückstand aufzuholen, wenn es dazu kommt. Das kann in Form von Pönalen bei Verzögerungen geschehen oder in Form von Abschlagszahlungen, wenn der Zeitplan erfüllt wird. Das lässt sich in einem Vertrag sehr detailliert und anreizsensitiv ausarbeiten.

Anreizkompatible Verträge sind auch das beste Instrument bei Rohmaterialverteuerung. Eine Fixpreisklausel würde dem Auftragnehmer das volle Preisrisiko übertragen, der dies entweder kalkulatorisch auf den Gesamtpreis aufschlagen oder aber durch geringere Qualität und Pünktlichkeit kompensieren würde. Dieses Risiko entfällt bei einer Rohmaterial-Preisgleitklausel, dann aber hätte der GU keinen Anreiz, im Fall einer Verteuerung nach Lösungen im Sinne des Auftraggebers zu suchen. Deshalb empfiehlt sich hier die Kombination mit dem Open-Book-Verfahren: Alles, was der Dienstleister an berechtigten Mehrpreisforderungen durch eigene Initiative auffangen kann, etwa durch geringeren Materialverbrauch, wird ihm als Bonus angerechnet, so dass beide Seiten etwas davon haben. Es geht also darum, die Preis- und Zeitrisiken zu identifizieren und entsprechend zu incentivieren.

Zwei von drei berechtigten Claims werden nicht verhandelt

Dazu kommt, dass viele Unternehmen nicht erkennen, an welchen Punkten sie berechtigte Ansprüche gegenüber dem Generalunternehmer haben, etwa weil aufgrund von technischen Änderungen weniger Stahl verbaut wird, als ursprünglich vereinbart, oder bestimmte Teile nicht benötigt werden. Aus eigener Initiative verrechnet der GU diesen geringeren Aufwand in der Regel nicht. Vielmehr muss der Auftraggeber diese Claims beim Generalunternehmer einfordern. Aber nach unserer Erfahrung verhandeln die Unternehmen zwei von drei Claims nicht, weil sie sie nicht sehen.

Denn wir haben es hier mit einem typischen Fall eines Principal-Agenten-Problems in einer komplexen Konstellation zu tun. Die Interessen der Beteiligten sind, bei gleichzeitiger Informationsasymmetrie, unterschiedlich und nicht darauf ausgerichtet, solche Ansprüche gegenüber dem GU zu erkennen. Die Architekten und Statiker befassen sich mit der technischen Realisierung, den Bauleiter treibt angesichts der bestehenden Personal- und Rohstoffknappheit eher die Sorge um den Zeitplan, wenn er solche Claims dem Einkauf meldet. Der Einkauf sieht die Claims nicht, weil er nicht die technische Kompetenz hat und nicht vor Ort ist. Und der Projektleiter ist im Rahmen seiner Zielsteuerung auf den Zeitplan, die Qualität und die Einhaltung des vereinbarten Budgets fokussiert. Keiner hat das Interesse oder den Blick dafür, wo die Möglichkeit für Forderungen gegenüber dem GU bestehen.

Deshalb ist es wichtig, dass Unternehmen die Schnittstellen zwischen Baustelle, Fachabteilungen und Einkauf richtig managen. Also eine Stelle haben, die die Information über die technischen Änderungen vom Bauleiter auf der Baustelle erhält, sie monetär bewertet und daraus Forderungen ableitet, die sie dem Einkauf übermittelt. Das kontinuierliche Monitoring der Großinvestitionen ist heute eine wichtige neue Aufgabe auf Vorstandsebene. Das Thema dieses und des nächsten Jahres wird es sein, bei Großinvestitionen berechtigte Claims gegenüber den Lieferanten zu stellen und unberechtigte Mehrpreisforderungen abzuwehren.


Autoren:

Yurda Burghardt,

Partnerin der Negotiation Advisory Group (NAG).


René Schumann,

Gründer und Geschäftsführer der Negotiation Advisory Group (NAG).


Zum Unternehmen: Negotiation Advisory Group

Die Unternehmensberatung  Negotiation Advisory Group (NAG) unterstützt Unternehmen auf Basis von Spieltheorie und Verhaltensökonomie bei Verhandlungen mit Lieferanten und Kunden. Gegründet wurde das Unternehmen 2018 von René Schumann und Stefan Oswald. Die beiden haben spieletheoretische Verhandlungen in Großvergaben bei der Daimler AG durchgeführt. Weitere Stationen in Konzernen wie Philips bzw. weltweit führenden Beratungshäusern folgten. Mit der Gründung ihrer Verhandlungsberatung haben die beiden Unternehmer Ihre Vision, die noch größtenteils unbekannte Methode der Spieletheorie in den Markt zu tragen und für Kunden zugänglich zu machen, realisiert.

So wie in den 80er-Jahren das damals einzigartige Harvard-Konzept als Neuheit das Verhandeln nachhaltig verändert und revolutioniert hat, möchte die NAG mit ihrer spieltheoretischen Verhandlungsmethode ein neues Standardwerk für die Verhandlung der Zukunft etablieren.

Mit über 40 internationalen Experten wurden bisher mehr als 2500 Verhandlungsprojekte durchgeführt und ein Volumen in Höhe von 19,3 Mrd. Euro verhandelt. Das Unternehmen hat Büros in Düsseldorf, Mannheim und Berlin. Zu ihren Kunden zählen internationale Konzerne sowie gehobene mittelständische Unternehmen.

Unsere Whitepaper-Empfehlung
Aktuelles Heft
Titelbild Beschaffung aktuell 4
Ausgabe
4.2024
PRINT
ABO

Industrie.de Infoservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der Industrie.de Infoservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum Industrie.de Infoservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des Industrie.de Infoservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de