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„Über die Kapitulation der öffentlichen Vergabe“

Der Bund kann nicht Einkauf
„Über die Kapitulation der öffentlichen Vergabe“

Um es vorweg zu sagen, die nachfolgende Kritik richtet sich nicht an die vielen verantwortungsvollen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der zigtausend Beschaffungsabteilungen der öffentlichen Verwaltung, nein sie gilt den unüberschaubaren Verfahrensanweisungen, Richtlinien und Ausführungsbestimmungen die Juristen im Auftrag der Politiker in Berlin und Brüssel verabschiedet haben.

Die Auftragsvergabe der Covid-Schutzimpfstoffe hat wieder einmal der Öffentlichkeit vor Augen geführt, wie mangelhaft und grottenschlecht ein Beschaffungsvorgang auf der politischen Verwaltungsszene abgewickelt wird. Bezeichnend war die Aussage der Bundeskanzlerin, zunächst mussten sehr aufwendig alle Haftungsfragen geklärt werden, bevor eine Auftragsvergabe stattfinden konnte. Dies erinnert mich an eine Situation, wo auf einer Brücke 3 Personen über die Möglichkeiten Ihres Handelns, eine ertrinkende Person zu retten, diskutieren. Der zu werfende Rettungsring könnte sein Ziel verfehlen oder auch dem Ertrinkenden schaden. Das Ergebnis: Wir haben korrekt gehandelt, nur leider ist das Opfer schon ertrunken. Dieses Beispiel zeigt sehr deutlich, in welcher Lage sich die öffentliche Auftragsvergabe befindet. Mittlerweile ist es soweit, dass sich kleinere Verwaltungen oder Organisationen scheuen Aufträge zu vergeben, um jegliche Formfehler zu vermeiden. Daher werden dann Kanzleien oder Beratungsgesellschaften eingeschaltet, die für teures Geld der Steuerzahler Aufträge „korrekt“ ausschreiben und zur Vergabe vorbereiten.

So komplex ist das öffentliche Vergabesystem geworden, dass für Kompetenz, Verantwortungsbewusstsein und Erfahrung kein Platz mehr ist. Nehmen wir mal ein Beispiel aus jüngster Vergangenheit, die Auftragsvergabe von Toll-Collect im Jahr 2002. Eine Heerschar von Juristen und Notaren haben sich über ein Vergabevertrag zusammengesetzt, der in seiner Endphase 17.000 (in Worten siebzehntausend – siehe auch Toll-Collect-Verträge) Seiten umfasste und in der Schweiz (nicht in Deutschland) unterzeichnet wurde. Rechnet man die 17.000 Seiten Vertragsdokumente in Platzbedarf um, so sind dies knapp 30 Aktenordner mit rund 3 m Ablagehöhe. Was hat es geholfen? Im abschließenden Rechtsstreit, es ging um Schadenersatz für eine verspätete Einführung des Systems, haben sich Anwälte und Gutachter 14 Jahre (in Worten vierzehn) gestritten und rund 270 Millionen Euro an Kosten verursacht (s. Morgenpost), damit sich am Ende in kleiner Runde Betreiber und Bund zusammengesetzt haben und einen Schlussstrich unter diesen unsäglichen Vorgang gezogen haben. Weitere Beispiele gibt es zuhauf, denken wir nur an die Elbphilharmonie, die Auftragsvergabe der neuen Gewehre beim Bund, die Maskenvergabe oder auch den Berliner Flughafen.

Konsequenzen aus dem Gelernten

Was sind die Konsequenzen aus all diesen negativen Beispielen? Die öffentliche Vergabe nach Richtlinien des Bundes und der europäischen Union greift nicht und ist realitätsfremd. Täglich werden im privaten Bereich zigtausende von Aufträgen vergeben und die freie Wirtschaft lebt immer noch. Gestandene Einkaufsleiter und -leiterinnen gehen mit Kompetenz, Erfahrung und Verantwortungsbewusstsein an ihre Aufgaben und verhandeln im Interesse ihres Auftraggebers und auch im Interesse der Gesellschaft (Arbeitsschutz, Vermeidung von Kinderarbeit, Compliance Regeln etc.). Dazu sind keine Bände von Regelungen und Gesetzestexte notwendig und vor allem keine Anwälte und Juristen, die fernab von irgendwelcher Praxisnähe versuchen, schwammige Vertragsdokumente zu Papier zu bringen (siehe oben Toll-Collect).

Jedem Einkäufer läuft ein Schauer über seinen Rücken, wenn er den von den europäischen Behörden ausgehandelten Vertrag zur Vergabe der Impfstoffe liest (ADVANCE PURCHASE AGREEMENT (“APA”)1 for the development, production, advancepurchase and supply of a COVID-19 vaccine). Über 40 Seiten (ohne die Anlagen) sind juristische Allgemeinplätze aufgeführt und enden in einem schwammigen Vertrag der in seiner wesentlichen Aussage (die alle Bürger interessiert: Wann wird der Impfstoff geliefert?) lediglich von „besten vernünftigen Bemühungen“, im Wortlaut: „Best Reasonable Efforts“ spricht. Dies erinnert an eine Personalbeurteilung, wo der Mitarbeiter mit „war stets ernsthaft bemüht“ beurteilt wird. Den Juristen wird dann noch von der politischen Ebene blind vertraut, wie sonst könnte eine Europäische Kommissionspräsidentin sich hinstellen und den Lieferanten mit der Anwendung des Vertragsrechts drohen (Irrlichtern im Impfstoffstreit: Von der Leyen blamiert die EU – n-tv.de ) Dies in Kenntnis oder schlimmer vielleicht, Unkenntnis der Wirksamkeit der geschlossenen Verträge.

Lösungsansätze

Wie kann so etwas in Zukunft verhindert werden? Nun, der erste Schritt wäre, dass kompetente Einkaufsabteilungen anstelle von administrativen Behörden gestellt werden, die einen Beschaffungsvorgang nicht als Verwaltungsakt betrachten, sondern als einen professionellen Einkaufsprozess. Diese Abteilungen müssen von gestandenen und verantwortungsbewussten Einkäufern und -innen geführt werden. Die Juristen müssen zurück ins zweite Glied, sie sind ein Dienstleister und haben dem Einkauf zuzuarbeiten, wie in der freien Wirtschaft auch, aber niemals dürfen Juristen und Berater die treibende und entscheidende Kraft sein. Siehe am Beispiel Toll-Collect, eine Spielwiese und für den Steuerzahler eine teure Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Anwälte, Notar und Juristen. Verträge müssen kurz, knapp und auf den Punkt gebracht sein, so wie es jeder Einkäufer in seiner Ausbildung beigebracht bekommt.

Ein Jurist hat mir mal erzählt, dass es Ziel der Juristen ist, Verträge zu entwerfen, die eine „gewisse Unschärfe“ an den Tag legen, damit im Nachgang genug Raum für Interpretationen bleibt. Eine Aussage, die jedem Einkäufer die Haare zu Berge stehen lässt. Der zweite Ansatzpunkt ist ein durchgängiges Vier-Augen und Kontrollsystem, wie es in der Industrie Standard ist. Dies hört sich einfach und selbstverständlich an, hat jedoch zur Konsequenz, dass die kontrollierenden Instanzen auch Sachkompetenz besitzen und nicht durch politische oder juristische Interessen geleitet werden. Wenn ich als Einkäufer einen wichtigen Vertrag erstelle, dann sind dort die fachlichen Vorgesetzten, die begleitenden Fachabteilungen, denen Rechenschaft ablegt werden muss und dort werden auch die richtigen und wichtigen Fragen gestellt. Ein System das sich über Jahrzehnte bewährt hat.


Der Autor: Dipl.-Ing. Wilfried Krokowski

ist Lehrbeauftragter und Einkaufsexperte. Er hat langjährige Erfahrung im Bereich Einkauf, Global Sourcing und Vertragswesen (u. a. öffentliches Vergaberecht). Als Berater und Projektmanager war er in den Bereichen Lieferantenmanagement, Supply Chain Management, Aufbau von Lieferanten-Qualitätssystemen, Materialgruppenmanagement, Global Sourcing und Investitionseinkauf tätig. Zudem ist er Herausgeber und Autor zahlreicher Fachbücher und Fachartikel zum Thema Einkauf und Vertragswesen.

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