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Sechs Spezialisierungen im Einkauf

Sechs Spezialisierungen im Einkauf
Kommentar: Die Kunst der Beschaffung

Kommentar: Die Kunst der Beschaffung
Dr. Oliver Frille ist Associate Partner bei Odgers Berndtson. Bild: Odgers Berndtson
Der Einkauf leistet in einem anspruchsvollen Umfeld einen stetig wachsenden Beitrag zum Unternehmenserfolg – aber auch nur dann, wenn er wie die Kunst handwerklich gut gemacht ist und über einen klaren Fokus verfügt. Ein Kommentar von Dr. Oliver Frille, Associate Partner bei Odgers Berndtson.

„Irgendwo auf der Welt ist immer Krise – das ist die neue Normalität“ (Handelsblatt, Kommentar: Neun Lehren aus Davos, 19.01.2024). Aus dem Zitat lässt sich ableiten: Unsicherheit ist die größte Herausforderung für die Wirtschaft in diesen Tagen. In Davos zeigte sich, dass die Welt nicht nur in eine amerikanische und chinesische Einflusssphäre geteilt ist, denn es gibt noch eine dritte Gruppe: Die Länder, die selbstbewusst in ihre eigene Zukunft investieren und auf neue Technologien und Innovationen setzen, im Kontrast zu jenen Ländern, die in der Vergangenheit feststecken.

Die Sicht auf die Welt und ihre Konflikte, die Umwelt, die Wirtschaft, die Politik und die Gesellschaft variiert mehr denn je zwischen den verschiedenen Ländern. Es gibt keinen globalen Konsens in der Bewertung in welcher Verfassung sich die Welt befindet. Das bedeutet, dass Wertschöpfungsketten in einem Umfeld erfolgreich sein müssen, das durch große Unsicherheit, Vielfalt, grundlegende technologische Umwälzungen und anspruchsvoller werdenden gesetzlichen Anforderungen gekennzeichnet ist. Dadurch muss der Einkauf als Dirigent der Lieferketten zusätzliche und neue Aufgaben übernehmen und in neue Rollen hineinwachsen.

Der Strategische Einkäufer und der Projekteinkäufer, als generalistisch ausgeprägte Rollen, erfüllen diese Anforderungen nicht mehr. Stattdessen sehen wir bei Odgers Berndtson sechs unterschiedliche Rollen im Einkauf, die unternehmensspezifisch ausgeprägt werden und deutlich spezialisierter sind.

1. Scouting zur Identifikation und Bewertung von Lieferanten

Die Bereitstellung von aktuellem Beschaffungsmarkt-Know-how ist eine Kernaufgabe des Einkaufs. Bei den Scouting-Aktivitäten auf den globalen Beschaffungsmärkten sollte unterschieden werden zwischen

a) eher allgemeiner, kontinuierlicher, datengestützter und teilweise automatisierter Beschaffungsmarktforschung sowie

b) bedarfsgesteuerten und maßgeschneiderten Initiativen zur Identifikation passender Lieferanten.

Diese Unterscheidung ist ausschlaggebend für die Zuordnung von Ressourcen, da das Kompetenzprofil des Suchteams mit den Zielen der Suchinitiative übereinstimmen muss. Suchaktivitäten sollten entlang der folgenden Dimensionen spezifiziert werden

  • High-Tech oder Commodity: Soll die Suche High-Tech-Lieferanten oder Commodity-Produkte sowie -Dienstleistungen identifizieren und bewerten?
  • Spezifikation oder Konzept: Besteht das Ziel darin, Lieferanten zu finden, die eine bestehende Spezifikation erfüllen? Oder liegt der Fokus darauf Technologien zu identifizieren, die zur Weiterentwicklung von Geschäftsmodellen beitragen?
  • Besteht ein Bedarf an einer sofortigen Integration von Lieferanten oder an einer langfristigen Perspektive?
  • Cultural Fit als entscheidende Einflussgröße für eine langfristige und erfolgreiche Lieferantenpartnerschaft

Die Passung zwischen Lieferanten und späterer Serienproduktion muss die führende Bewertungsdimension sein, um prädiktives Handeln sicherzustellen.

2. Produkt- und Dienstleistungsentwicklung

Die Entwicklung von Dienstleistungen und Produkten wird immer mehr zu einem cross-funktionalen Prozess – Engineering, Marketing, Verkauf, Produktmanagement, Einkauf, Produktion und andere relevante Funktionen müssen involviert werden, um eine wettbewerbsfähige Marktpositionierung zu erreichen.

Zwei Phasen sind zu unterscheiden, die eigentliche Gestaltung des Dienstleistungs- und Produktangebots sowie die spätere Lieferantenauswahl. In beiden Fällen sind fundierte Kenntnisse aus den Beschaffungsmärkten zwingend erforderlich. Unternehmen laufen Gefahr, Chancen bei der Nutzung von Innovationen, neuer Technologien, Ressourcen und relevanter Kapazitäten zu verpassen, wenn sich die Rolle des Einkaufs weiterhin auf die Vergabe von Aufträgen beschränkt.

3. Lieferantenintegration

Die Verknüpfung aller Geschäftsprozesse ist der Schlüssel für eine effiziente und erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Lieferanten und Kunden. Ziel ist es, reibungslose und resiliente Lieferketten für Dienstleistungen und Waren sowie für Informationen, Dokumente und Zahlungen mit jedem einzelnen Partner zu aufzubauen.

Die Lieferantenintegration ist eine funktionsübergreifende Aufgabe, an der Engineering, Qualität, Einkauf, Produktion, Finance, Marketing und Verkauf beteiligt sind und die auf verschiedenen Ebenen wie beispielsweise IT-Infrastruktur, Verantwortlichkeiten und Kennzahlen abläuft. Um möglichst reibungslose Prozesse während der Serienbelieferung zu gewährleisten, sind Tests und Anlaufpläne zu erarbeiten und in einem Stage-Gate-Prozess einem Monitoring zu unterziehen.

4. Ganzheitliches Risiko Management

Lieferketten sind ununterbrochen Risiken ausgesetzt. Eine detaillierte Analyse der mehrstufigen Supply Chains ist eine wesentliche Voraussetzung für ein späteres, effizientes Risikomanagement. Dabei muss die Wertschöpfungskette von den Rohstoffen bis zum Endkunden für Material, Halbzeuge, Produkte, Dienstleistungen, Finanzflüsse und Informationen betrachtet werden –Transportwege, Häfen, Umschlagplätze, IT-Systemlandschaften etc. sind zu berücksichtigen. 

Überschwemmungen, Lkw-Pannen, IT-Systemausfälle, Cyber-Attacken, Produktbeschädigungen, Insolvenzen, Werkzeugbruch oder Rohstoffmangel – all diese Ereignisse erfordern umgehend Maßnahmen zur Absicherung der eigenen Produktion. Dafür müssen engagierte und speziell geschulte Mitarbeiter kurzfristig bereitstehen und über ausgereifte Notfallpläne verfügen.

Der komplexe mehrstufige Aufbau der Liefernetzwerke, die gleichzeitige Verfolgung operativer und strategischer Initiativen sowie die Berücksichtigung physischer und digitaler Lieferketten bedarf einer integrierten Sicht auf die Supply Chains. Nur die Bündelung aller Aktivitäten des Risikomanagements in einer Funktion gewährleistet diese ganzheitliche Betrachtung.

5. Steuerung der Lieferantenbeziehung

Viele Beschaffungsmärkte verändern sich auf eine Weise, dass Kunden auf den Zugang zu bestimmten Technologien, Rohstoffen, Kompetenzen, Produktionskapazitäten oder geistigem Eigentum angewiesen sind. „Access“ wird zu einem kritischen Erfolgsfaktor.

Die Performancemessung der Lieferantenleistung in den Dimensionen Qualität, Logistik und Kosten steht nach wie vor außer Frage, muss aber weiterentwickelt und um die Beziehungsperspektive ergänzt werden. Der Kontext, der zur Notwendigkeit eines spezifischen Beziehungsmanagements führt, ist vielfältig und umfasst unter anderem gestresste Lieferketten, Knappheit von Gütern und Rohstoffen, extreme Wetterbedingungen und deren Auswirkungen auf Produktion und Versorgung, knappe Finanzmittel aufgrund gestiegener Zinssätze, Preissteigerungen, Mangel an Mitarbeitern sowie Talenten. Das Supplier-Relationship-Management zielt auf Folgendes ab:

  • Zugang zu wichtigen Ressourcen, Innovationen, Materialien, geistigem Eigentum und Kapazitäten sichern;
  • eine höhere Widerstandsfähigkeit bei der Bereitstellung von Produkten und Dienstleistungen durch effektives Krisenmanagement erreichen und
  • mehr Effizienz bei unvermeidlichen Eskalationen entwickeln.

6. Reduktion von Kosten und CO2

CO2-Emissionen sind der Game-Changer unserer Zeit. Der Green Deal der Europäischen Union und in Folge die Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) schreiben nicht nur eine Dokumentation der CO2-Emissionen eines Unternehmens vor, sondern fordern auch deren jährliche Reduzierung. Das tiefgreifende Verständnis von Lieferketten im Allgemeinen qualifiziert den Einkauf dazu, die Initiativen zur CO2-Reduzierung in Scope-3 zu steuern, wobei dies stets einen funktionsübergreifenden Ansatz zusammen mit Engineering, Produktion, Qualität, Marketing und Verkauf erfordert.

Zweifellos waren bisher Kosten für Dienstleistungen und Produkte die entscheidendste Kennzahl im Einkauf. Heute ist diese Singularität nicht mehr zeitgemäß. Die CO2-Emissionen müssen neben den Kosten als zweite Dimension in der kontinuierlichen Optimierung der Liefernetzwerke etabliert werden. Im Kern geht es unter anderem um die Optimierung der Dienstleistungen und Produkte durch Neukonfiguration, Entfeinerung, Verbesserung und Ersatz bestimmter Herstellungsprozesse, Ersatz von Materialien oder Verwendung neuer Materialien. Eine professionelle Steuerung der Initiativen ist ebenso wichtig wie die anschließende Prüfung und Auditierung der veränderten Produkte und Services.

Zusammenfassung

Die beschriebenen Rollen werden je nach Unternehmen, Branche und Marktzyklus in ihrer Ausprägung variieren. Der Trend zur Spezialisierung eint die unterschiedlichen Ansätze zur Weiterentwicklung der Einkaufsorganisationen. Führungskräfte werden mit zunehmender Vielfalt und Diversität in ihren Organisationen umgehen müssen. Das Qualifikationsprofil des Chief Procurement Officers (CPO) tendiert weiter in Richtung eines umfassenden Supply-Network-Leaders.

Die Arbeit innerhalb des Einkaufs wird zukünftig geprägt sein von folgenden Charakteristika: spezifische Expertisen, Asynchronität der Leistungserbringung, Dezentralität, intensiver Kommunikation, viele Schnittstellen und Übergaben sowie Cloud-basierte Collaboration-Tools und Datenquellen. (ys)

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