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Krise im Roten Meer: Aktuelle Auswirkungen und mögliche Strategien

Dr. Kai-Oliver Zander, Arthur D. Little, im Interview
Krise im Roten Meer: Auswirkungen und mögliche Strategien

Krise im Roten Meer: Auswirkungen und mögliche Strategien
Durch das Rote Meer gehen große Teile des europäisch-asiatischen Handels, sodass wichtige Vorprodukte aktuell nicht rechtzeitig ankommen. Bild: Robert/stock.adobe.com

Die Angriffe der Huthi-Miliz im Roten Meer, genauer in der Meerenge Bab al-Mandab, machen sich in den Lieferketten deutscher Unternehmen bemerkbar. Die Umleitung der Containerschiffe sorge zumindest kurzfristig für längere Lieferzeiten und höhere Kosten. Im Gespräch mit Dr. Kai-Oliver Zander, Principal Supply Chain Management der Unternehmensberatung Arthur D. Little, erfahren wir, mit welchen konkreten Auswirkungen durch die Krise zu rechnen ist, wie Unternehmen kurzfristig reagieren können und welche langfristigen Strategien sich hieraus ergeben.

Das Interview führte Yannick Schwab, Beschaffung aktuell

Beschaffung aktuell: Herr Dr. Zander, können Sie die strategische Bedeutung des Suezkanals und des Roten Meeres für die globalen Lieferketten erläutern?

Dr. Kai-Oliver Zander: Die Bedeutung des Suezkanals für den Welthandel und insbesondere die Versorgung europäischer Lieferketten ist enorm. Gewöhnlich gehen über zehn Prozent des jährlichen Welthandels durch diese Engstelle. Die Suez-Passage ist somit die Lebensader vieler europäischer Lieferketten und stellt die kürzeste und somit zumeist effektivste Verbindung zwischen Asien und Europa dar.

Dr. Kai-Oliver Zander ist Principal, Supply Chain Management, bei der Unternehmensberatung Arthur D. Little. Bild: Arthur D. Little

Aktuell führen die Huthi-Angriffe in der Meerenge Bab al-Mandab zu Störungen in den globalen Lieferketten. Welche Auswirkungen hat das auf die Beschaffung deutscher Unternehmen?

Grundsätzlich lässt sich feststellen, dass besonders die Branchen betroffen sind, die am stärksten von Just-in-Time-Lieferungen aus Asien abhängig sind. Fehlende Produktionsmittel in Form von Werkprodukten oder Rohstoffen machen sich etwa im Maschinen- und Automobilbau, der Medizintechnik sowie in der Pharmaindustrie schnell bemerkbar. Hinzu kommt, dass Lieferengpässe in Bereichen wie der Pharmabranche teilweise besonders kritisch sind. Die sieben bis zehn Tage, die es braucht, um von der Suez- auf die Afrika-Passage umzustellen, führen sicherlich selten zu Komplettausfällen, dennoch könnten komplexe Lieferketten mit geringen Lagerbeständen in Schwierigkeiten geraten. Verknappung der Kapazitäten schlägt sich schnell auf die Preise nieder. Die deutsche Fabrik von Tesla sorgte hier kürzlich für Schlagzeilen, als man einen Produktionsstopp ankündigte. Wichtig ist nun, dass unter Einbezug der branchentypischen Möglichkeiten die Liefernetzwerke so resilient wie möglich gestaltet werden.

Wie wirkt sich die Umleitung um das Kap der Guten Hoffnung auf die Transportzeiten und -kosten aus?

In den allermeisten Fällen verlängert sich die Transportzeit um rund sieben bis zehn Tage. Wenn Reeder versuchen, besonders treibstoffsparend zu fahren, kann sich dies selbstverständlich noch verlängern. Für die Passage entlang des Kaps der guten Hoffnung gehen wir von rund 30 Prozent höheren Treibstoffverbrauchen gegenüber der gewöhnlichen Suez-Passage aus. Für die Reeder fallen neben den erhöhten Treibstoffkosten auch die gestiegenen Versicherungsprämien ins Gewicht. Diese haben sich zum Teil deutlich erhöht und treiben entsprechend die Gesamtkosten der Reeder. Längere Passagen spiegeln sich außerdem kurzfristig in einer Verknappung der Kapazitäten wider. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass auf Unternehmen höhere Kosten zukommen.

Wie stark beeinflussen die gestiegenen Versicherungsprämien und Treibstoffkosten die Preise für Rohstoffe und Güter?

In der kurzfristigen Preisentwicklung haben sich die Frachtraten teilweise mehr als verdoppelt – und dies in sehr kurzer Zeit. Dieser Effekt ist unserer Meinung nach aber eher von kurzfristigem Charakter. Das Umstellen der Schiffsumläufe braucht ein paar Wochen Zeit. Hinzu kommt der saisonale Sondereffekt des chinesischen Neujahrsfestes. Hier werden traditionell Güter in erhöhter Menge versandt, um die Lager leer zu bekommen. Die treibt erwartungsgemäß die Frachtraten. In der Gesamtschau besteht ein faktisches Überangebot an Transportkapazitäten aufgrund der massiven Investitionen der letzten Jahre durch die Reedereien. Der Markt wird aller Voraussicht nach umkämpft bleiben, mit den entsprechenden Effekten auf die Frachtraten.

Welche Warengruppen und Branchen sind besonders stark von den aktuellen Ereignissen im Roten Meer betroffen?

Kritische Auswirkungen sehen wir derzeit in einigen Bereichen industrieller Güter, weil Komponenten fehlen bzw. verspätet ankommen. Auch Branchen wie die Pharmaindustrie sind international sehr verzahnt und auf Vorprodukte aus Asien und insbesondere Indien angewiesen. Bei den Konsumgütern sind kurzfristige Verzögerungen ebenfalls möglich, häufig ist dieser Bereich durch Lagerhaltung jedoch gepuffert bzw. sind Nachholeffekte durch Verbraucher zu erwarten, sobald die Produkte mit einiger Verzögerung wieder verfügbar sind. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die produzierende Industrie, insbesondere die Automobilindustrie mit ihren Just-in-Time getriebenen Lieferketten stets anfällig für Disruption ist.

Welche Auswirkungen haben die Ereignisse auf die Just-in-Time-Produktion?

In der Theorie sind die Auswirkungen grundsätzlich gering, wenn die erhöhten Wiederbeschaffungszeiten entsprechen vorgesehen werden. In der Praxis wird es aufgrund der dynamischen Situation sicherlich weiterhin zu Beeinträchtigungen kommen. Insbesondere in kritischen Warengruppen oder Komponenten sollte geprüft werden, inwieweit eine kurzzeitige Bevorratung sinnvoll sein kann. Stets müssen dabei die Gesamtkosten im Blick behalten werden. Unternehmen sollten darüber hinaus prüfen, in welchem Ausmaß Lieferanten, die eng ins Produktionssystem eingebunden sind, entsprechende Transparenz über ihre Lieferketten besitzen und auch entsprechende Maßnahmen zum Risikomanagement eingeleitet haben. 

Welche kurzfristigen Maßnahmen können Einkäufer und Supply-Chain-Manager in Erwägung ziehen, um die negativen Auswirkungen zu reduzieren?

Das schärfste, gleichwohl teuerste Schwert im Kampf gegen Linienstillstände bleibt die Luftfracht. Die Raten haben sich zwar auch hier verteuert, allerdings noch lange nicht in Sphären wie zu Corona-Zeiten. Damals war die Gemengelage insgesamt noch unübersichtlicher und kaum planbar. Aufgrund der hohen damit verbundenen Kosten ist insbesondere wichtig zu verstehen, inwieweit andernfalls anfallende Kosten – Stichwort Linienstillstand – vermieden werden können. Diese Transparenz fehlt vielen Supply-Chain-Managern häufig und so werden Entscheidungen getroffen, für die es nur eine unzureichende Datengrundlage gibt. Deutlich günstiger kann das frühere Entladen von Containern wirken. Anstatt in westeuropäischen Häfen zu entladen kann bereits im ersten angelaufenen südeuropäischen Hafen entladen und der Weitertransport auf dem Landweg erfolgen. Hier lassen sich einige Tage wieder aufholen. Auch dazu ist es notwendig, die eigenen Kostenstrukturen zu verstehen. Ein kurzfristiger Aufbau von Beständen in kritischen Warengruppen oder Komponenten sollte darüber hinaus in Betracht gezogen werden. Dies kann das Gesamtsystem durchaus stabilisieren, ohne die Gesamtkosten zu stark zu belasten. Alle Maßnahmen sollten auch mit den wichtigsten Lieferanten abgestimmt werden. Häufig genug ist die Kompetenz solche Krisen zu meistern entlang der einzelnen Zuliefererstufen unterschiedlich stark ausgeprägt.

Mittelfristig ist zu raten, möglichst hohe Transparenz über die eigenen Lieferketten, nicht nur strategisch, sondern auch operativ-taktisch zu erlangen. Die Bestände und das laufende Supply-Chain-Risikomanagement bei den engsten Lieferanten sollte bekannt sein. Hier besteht häufig noch zu wenig Transparenz.

Brennpunkt Rotes Meer – Frachtraten steigen rapide

Wie schätzen Sie die mittel- bis langfristige Perspektive für diese Route ein?

Tatsächlich sehen wir aktuell, dass der Konflikt im Roten Meer auf absehbare Zeit Bestand haben wird. Wir erleben bereits, dass die USA und europäische Mächte nun direkt intervenieren, über das Pulverfass im Nahen Osten wird seit Wochen diskutiert.

Allerdings ist wohl eher nicht damit zu rechnen, dass die Beeinträchtigungen der Suez-Passage langfristig fortbestehen werden. Das politische Interesse der Globalmächte wie China, der USA und Europa an dieser Handelsroute ist dafür zu groß. Eine Fortführung der Angriffe wird in diesem Kontext für die Huthis zunehmend riskanter. Dennoch sollten Unternehmen die instabile Lage im Roten Meer für die nächsten Monate und Jahre in ihre Risikobewertung mit einbeziehen. Zweifellos hat dieser multidimensionale Konflikt somit Auswirkungen auf die Planung rund um den europäischen Handel.

Wie können Unternehmen ihre Lieferketten resilienter gestalten, um gegen derartige Krisen zukünftig besser gewappnet zu sein?

Das wohl grundsätzlichste Problem ist häufig noch die Transparenz. Während aus strategischer Sicht inzwischen viel passiert ist, insbesondere induziert durch das Lieferkettengesetz und weitere Anforderungen, ist das operativ-taktische Supply Chain Management häufig noch ein „Fahren auf Sicht“. Überall wo große Verantwortung an Lieferanten abgegeben wird, sollte umfangreiche Kenntnis über mögliche Ausfallrisiken und notwendige Gegenmaßnamen bestehen. Auch das regelmäßige Überprüfen der Lieferketten hinsichtlich möglicher Schwachstellen wird heute noch häufig übersehen. Die Bemessung von Beständen und die Gestaltung von Logistikketten sollte nicht rein auf ein operatives Kostenoptimum für den Best Case getrimmt werden, sondern vielmehr auch Sondereffekte wie derartige Krisen in die Betrachtung mit einbeziehen.

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