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Der Ausnahmesituation bestmöglich begegnen

Lieferkettenprobleme
Der Ausnahmesituation bestmöglich begegnen

Der Ausnahmesituation bestmöglich begegnen
Michael Lichtinger ist Konsumgüter- und Handelsexperte beim Beratungsunternehmen Atreus in München und setzt sich mit den akturllen Lieferkettenproblemen auseinander. Bild: Atreus
Das Jahresende ist nicht mehr weit, die Festtage rücken näher und näher. Während der Handel im wichtigsten Quartal des Jahres auf gute Umsätze hofft, sorgen pandemiebedingte Produktionsausfälle in Asien für Verdruss. Rohstoffe fehlen, in der Logistik herrscht Chaos.

Dieses Weihnachten dürfte wohl ein besonderes Fest werden. Zum einen, da viele Familien – im Gegensatz zum letzten Jahr – wieder zusammenkommen. Zum anderen, da die Geschenke vermutlich anders ausfallen werden, als es viele Kinder derzeit erwarten. Wenn es denn überhaupt welche gibt. Die globalen Lieferketten sind aktuell in einer Ausnahmesituation und zum Zerreißen gespannt. Täglich gibt es neue Hiobsbotschaften über Lieferengpässe. Die Pandemie hat die globalen Warenströme durcheinander gewirbelt.

Auf der einen Seite gibt es eine extrem gestiegene Nachfrage, vor allem nach langlebigen Produkten wie etwa Möbeln, Fahrrädern, Heimtrainern, elektrischen Geräten sowie Rohstoffen für die Bauindustrie – letztere zudem noch durch die Konjunkturmaßnahmen vieler Regierungen befeuert. Auf der anderen Seite kam und kommt es immer noch zu coronabedingten Produktionsausfällen in Fabriken. Der Sportartikelhersteller Nike beispielsweise beklagte bei der Vorlage der letzten Quartalszahlen, dass man bereits zehn Wochen Produktion in den vietnamesischen Werken verloren habe, aber auch andere Hersteller wie Puma oder Adidas sind nachhaltig betroffen.

Fehlende Planbarkeit und Nichteinhaltung von Lieferterminen

Seit der Blockade des Suezkanals im März dieses Jahres hört man über anhaltende Probleme in der Containerschifffahrt. Als Ende August Chinas zweitgrößter Containerhafen Ningbo-Zhoushan mit den fast zwanzig angeschlossenen Einzelhäfen aufgrund eines Coronaausbruchs geschlossen wurde, hieß es wieder einmal Warten für die großen Schiffe mit ihren Tausenden von Containern. In der Zwischenzeit wurden weitere wichtige Häfen vorübergehend geschlossen, was zur Folge hat, dass viele Schiffe vor Anker liegen und oft tagelange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen.

Entsprechend verschiebt sich der Rückstau auf die im Hafen wartenden Lkw und macht eine Planbarkeit und Einhaltung von Lieferterminen äußerst schwierig oder gar unmöglich. Aber nicht nur in China sind viele Häfen überlastet, auch die USA sind betroffen. So auch der Hafen von Los Angeles, vor dem sich viele Schiffe aus Asien stauen. Präsident Joe Biden hat hier unlängst verkündet, dass man künftig einen 24-Stunden-Betrieb fahren werde, um die Rückstände aufzuarbeiten.

Extremer Verdrängungseffekt

Diese Vorkommnisse führen dazu, dass sich die Lieferzeiten für Container stark verlängert haben und zum Teil doppelt so lange wie üblich benötigt wird. Hinzu kommt, dass die Preise für Frachtcontainer, vor allem aus Asien, förmlich explodiert sind. So liegen die Kosten für den Transport eines 40-Foot-Containers von Shanghai nach Rotterdam aktuell bei umgerechnet bis zu 13.000 Euro, was einer Verfünffachung des Preises innerhalb eines Jahres entspricht.

Nicht jedes Unternehmen kann diese immensen Preisanstiege ohne Weiteres an seine Endkunden weitergeben. Es kommt zu einem extremen Verdrängungseffekt, wobei sich einige Unternehmen – etwa im niedrigpreisigen Warensegment mit hohem Volumen – wohl entscheiden müssen, ob sie einen Verlust in Kauf nehmen oder den Kunden vor leeren Regalen stehen lassen.

Wirtschaftlichkeit steht an erster Stelle

In wenigen Wochen läutet nun der Black Friday am 26. November den Weihnachtsendspurt ein. Was kann die Konsumgüter- und Handelsbranche unternehmen, die vor der Herausforderung fehlender Ware steht? Zunächst geht es um den Versuch, die Ware doch noch rechtzeitig – und unter Berücksichtigung der Wirtschaftlichkeit – nach Europa zu bekommen. Hier sind bereits viele Konzerne wie Ikea oder Coca-Cola selbst dazu übergegangen, ganze Frachtschiffe und Container zu kaufen oder ihre eigenen Fahrzeugflotten nach Asien zu schicken. In der Hoffnung, die Ware doch noch rechtzeitig zu bekommen.

Während das Flugzeug unbestritten die schnellste Option ist, so wird sich dieser Weg jedoch für viele Warengruppen aufgrund der Kosten nicht rechnen – wenn man nicht gerade hochpreisige Produkte wie etwa Apple verkauft. Auch die Bahn ist eine Möglichkeit, die Ware – schneller als per Schiff und günstiger als per Flugzeug – zu importieren. In normalen Zeiten benötigt ein Zug über die Seidenstraße in etwa zwanzig bis dreißig Tage, um seine Destination in Deutschland zu erreichen. Aufgrund der erhöhten Nachfrage, dürfte aber auch hier in vielen Fällen „der letzte Zug bereits abgefahren sein“.

Trend zum „Nearshoring“

Um künftig zumindest das Risiko zu streuen, sollten Unternehmen die Möglichkeit und Wirtschaftlichkeit einer Dual Sourcing-Strategie in Betracht ziehen. Hierbei handelt es sich nicht nur um zwei Produzenten, sondern um gleich mehrere Produktionsstandorte, die geografisch verteilt sind. Bei großen Herausforderungen in der Lieferkette wie wir sie aktuell erleben, können die Probleme besser abgefedert werden. Für bestimmte Warengruppen wie Textilien lohnt sich jedoch auch ein Blick auf andere Produktionskapazitäten, etwa in Italien, Portugal oder Rumänien.

Zudem ist zu erwarten, dass sich der Trend zum „Nearshoring“ aufgrund der schnelllebigen Mode und der Erfahrungen aus der Pandemie weiter verstärken wird. Manche Unternehmen tendieren auch zu Preiserhöhungen. Zum einen, um die gestiegenen Frachtkosten weiterzugeben, zum anderen aber auch um die Nachfrage etwas zu bremsen und leere Regale im Einzelhandel oder vergriffene Produkte auf dem Webshop zu vermeiden.

Der Kunde im Mittelpunkt

Bei all den logistischen Herausforderungen, mit denen Firmenlenker aktuell zu kämpfen haben, sollte vor allem einer nicht vergessen werden: Der Kunde. Jedes Unternehmen sollte sich bereits jetzt einige Fragen hinsichtlich der Customer Experience stellen:

  • Wie wird der Kunde reagieren, wenn keine Ware vorhanden ist?
  • Wie wird der Händler reagieren, wenn sich die in Asien produzierten Geschenke verspäten?
  • Wie preissensitiv ist der Kunde in Bezug auf bestimmte Produkte?
  • Besteht das Risiko eines nachhaltigen Schadens für die Markenpositionierung oder ist der Kunde bereit einen Preisaufschlag zu bezahlen?
  • Kann der Wettbewerb liefern oder gibt es andere Substitutionsgüter, die verfügbar sind?
  • Wie hoch ist der Customer Lifetime Value und wie viel kann das Unternehmen in die Akquisition der Kunden investieren, um sie langfristig an das Unternehmen zu binden?
  • Gibt es eine Möglichkeit, den Kunden zu vertrösten und beispielsweise mit Preisnachlässen, Gutscheinen oder sonstigen Maßnahmen wie einem VIP-Event dazu zu bewegen, die Wartezeit in Kauf zu nehmen?

Bewusste Risikoabschätzung

Um all diese Fragen zu beantworten, ist eine Risikoabschätzung notwendig, bei der nicht nur die Supply Chain, sondern alle wichtigen Unternehmensbereiche wie Marketing, Verkauf, Aftersales und Finanzen an einem Tisch sitzen sollten. Dabei geht es um die Entwicklung einer ganzheitlichen Strategie, die trotz fehlender Warengruppen eine langfristige Kundenbindung garantiert und gleichzeitig für eine finanziell verkraftbare, wirtschaftliche Situation sorgt.

Aber lassen Sie uns den Tatsachen ins Auge sehen. Trotz aller Anstrengungen werden es vermutlich nicht alle Waren rechtzeitig ins Regal oder den Webshop schaffen. Es wird ein Weihnachten geben, bei dem der ein oder andere Geschenkwunsch nicht unter dem Baum landen wird. Ein Trost bleibt jedoch: Die meisten Experten rechnen für nächstes Jahr mit einer Normalisierung der Transportsituation im ersten respektive zweiten Quartal. So besteht große Hoffnung, dass wir diese Situation nicht „alle Jahre wieder“ erleben werden.


Der Autor: Michael Lichtinger

Konsumgüter- und Handelsexperte beim Beratungsunternehmen Atreus in München.

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