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Digitalministerium? Jeder Einzelne ist gefordert

Standort Deutschland: Zukunft geht uns alle an
Digitalministerium? Jeder Einzelne ist gefordert

Digitalministerium? Jeder Einzelne ist gefordert
Tobias Löwenthal, Geschäftsführer der 4EBIT GmbH in Essen, fordert die Digitalisierung endlich zur Chefsache zu machen. Bild: 4EBIT

Braucht Deutschland ein „souveränes“ Digitalministerium? Die Antwort Radio Eriwans lautet wie immer: „Im Prinzip ja, aber …“ Dem schließe ich mich bei dieser Frage gerne an. Die Liberalen im neuen Bundestag jedenfalls wollen eines. Auf den ersten Blick mag das Sinn machen. Schließlich hechelt Deutschland anderen Ländern bei der „Durchdigitalisierung“ von Unternehmen, Behörden und Gesellschaftsbereichen hinterher, vor allem dem ehrgeizigen Primus China.

Brücken ohne Fundament

Es gibt eine ganze Reihe Beispiele, die so gar nicht zu Deutschland passen, so möchte man meinen. Aber zur traurigen Wahrheit gehört nun einmal, dass man hierzulande gerne den zweiten und dritten Schritt vor dem ersten macht. Kostprobe aus dem Schulalltag: An einer Schule in Mannheim ist derzeit eine erfahrene Lehrerin für Deutsch und Englisch über einen langen Zeitraum dazu gezwungen, vertretungsweise Handy- und Social-Media-gestählten Teenagern einer „fremden“ Klasse im „IT-Unterricht“ das Programmieren zu vermitteln … Zudem werden schon Fächer ausgerufen, für die es noch gar keine Studierenden gibt. Veto zwecklos. Ergebnisse: an echten Lösungen nicht (mehr?) interessierte Schulleiter, verunsicherte Lehrkräfte, belustige und zugleich genervte Schüler. Alle haben zwar eine vage Ahnung, was Digitalisierung alles könnte, wenn sie denn könnte, erleben das komplexe Thema indes als Brücke ohne Fundament.

Aber macht ein belastbares Fundament unter einer maroden Brücke überhaupt Sinn? Siehe Wiesbaden: Im Juni 2021 musste die 1963 gebaute Salzbachtalbrücke, eine vielbefahrene Achse der A 66, wegen akuter Einsturzgefahr gesperrt werden (Betonteile waren auf die darunter verlaufende Bundesstraße gefallen). Die Sprengung erfolgte am 6. November – jeder Neugierige konnte das nur Sekunden dauernde Spektakel (dafür gab es lange Vorberichte) live via Internet verfolgen. Alles planmäßig gelaufen – so klopfte man sich in Wiesbaden und bei der Autobahn AG auf die Schulter. Dabei hat das Ganze eine unwürdige Vorgeschichte. Eigentlich sollte ein jahrelang geplanter Neubau bis 2022 komplett fertig sein, dann war von 2026 die Rede. Im Juni 2021 ist dieser „Plan“ dann im wahrsten Sinne zusammengebröckelt.

Griffiges Mobilitätskonzept? Fehlanzeige. Viele tausend Menschen jn Autos, Lkws und Zügen wurden und werden auch weiterhin massiv beeinträchtigt. Der Hauptbahnhof der hessischen Landeshauptstadt wird weiterhin noch bis Weihnachten (wie es heißt) weitgehend abgekoppelt bleiben. Aber immerhin Sprengungen scheint man zu können … Man stelle sich vor: Zentral gepflegte Apps melden den Verantwortlichen in Bauämtern, Verkehrsministerien und bei der Autobahn GmbH automatisiert just in time, dass bzw. wann Inspektionen an Bauwerken anstehen. In Unternehmen fällt das in den Bereich Predictive Maintenance. Wenn dann aber solche (teilweise lebenserhaltenden) wichtigen Informationen nicht auch just in time in ein abgestimmtes Maßnahmenmanagement (mit tragfähigem Fundament!) überführt werden, ist das nicht der Technik an sich geschuldet. Risikomanagement erfordert neben flexiblen Tools (die gibt es ja längst) eben auch ein Mindestmaß an menschlichem Grips und Verantwortungsbewusstsein. Womit wir wieder beim dritten vor dem ersten Schritt wären.

Digitalministerium: Im Prinzip ja, aber …

Genug der Schelte. Lernen sollten man ja immer von den Besten (ok, sagen wir: von den „Besseren“). Die flinken Denker und tatkräftigen Umsetzer in China holen wir definitiv nicht mehr ein, aber man muss hierzulande begreifen, was dort wie in welchem Tempo abgeht. Auch unsere direkten Nachbarn machen uns Best Practice vor. Im „Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft Deutschland (DESI)“ der EU-Kommission (Ergebnisse des DESI 2020) rangierte Deutschland 2020 unter 28 Mitgliedstaaten an 12. Stelle. Laut Index auf dem Treppchen: Finnland (Gold), Schweden (Silber) und Dänemark (Bronze). Bei den Olympischen Spielen schafft man es mit Platz 12 nicht einmal in den Endkampf um Medaillen.

Nehmen wir Dänemark. Die Dänen können bei uns lernen, wie man marode Brücken auf dem Punkt zum Einsturz bringt. Wir schauen im Gegenzug auf die digitale Entwicklung bei unseren nordischen Nachbarn. Die wird dort von fundamentalen Werkzeugen getragen, die sowohl Zugang als auch Kommunikationswege zwischen Bürgern und Amtsstellen sichert. In der Digitalstrategie 2016 bis 2020 (!) hatte man unter anderem schlicht, aber verständlich formuliert: „Das digitale Vorgehen sollte leicht, schnell und von hoher Qualität sein“, „Digitalisierung sollte gute Bedingungen für Wachstum bieten“ und „Vertrauen muss immer im Zentrum stehen“ (nachzulesen hier: https://en.digst.dk/policy-and-strategy/digital-strategy/). Richtig: Auch in Dänemark kommt es auf die praktische Umsetzung an. Fakt ist: Dort war bisher kein Digitalministerium nötig. Vielleicht, weil man schon vor 2016 längst wusste, dass die Einrichtung eines solchen Dickschiffs auf dem Meer mächtig Wellen gemacht hätte, die später nur noch sanft plätschernd am Strand ausgelaufen wären?

Eine ähnliche Vermutung wird auch im deutschen „Handelsblatt“ genährt. Zitat (bezogen auf Deutschland): „Ein komplett neues Ministerium würde einen noch weitaus größeren Aufwand mit sich ziehen. Denn in den letzten vier Jahren waren insgesamt 504 Personen in den Bundesministerien mit dem Thema Digitalisierung beschäftigt, das geht aus der Antwort auf eine kleine Anfrage der FDP-Bundestagsfraktion hervor. Viele von ihnen müssten das Ministerium wechseln, ganze Abteilungen, die teilweise gerade erst neu geschaffen wurden, müssten umziehen.“ (Mehr hier: www.handelsblatt.com) Dass dabei auch die Frage eines passenden Gebäudes (wo bitte soll das denn noch herkommen bei der Gebäudedichte in Berlin?) in die Diskussion geworfen wird, wirkt angesichts der dramatischen Nachholbedarfs Deutschlands fast komisch.

Strategie über alles muss her

Man muss die neue Bundesregierung in die Pflicht nehmen. Statt Stückwerk mit Einzelpapieren (Beispiel: Blockchain-Strategie der alten Bundesregierung) muss endlich eine übergeordnete, tiefgreifende Strategie „über alles“ zeitnah greifen, sonst ist dem Standort mit vielen analogen Arbeitsplätzen irgendwann nicht mehr hinreichend zu helfen. Egal, ob eigenständiges Digitalministerium oder schlagkräftige Einheit im Finanzministerium: Überall kommt es auf Verständnis, Verstehen und Umsetzungswillen angesichts der enormen Komplexität einer „Durchdigitalisierung“ an. Digitalisierung ist längst keine Thematik mehr. Sie ist als Problematik mit tiefgehender Komplexität zu begreifen. Es reicht nicht, unablässig die Chancen zu betonen, ohne gleichzeitig auch die Risiken forsch und mutig anzugehen. Wohlgemerkt mit Grips und Verantwortungsbewusstsein.

Einkauf, Logistik, SCM

Für Einkauf, Logistik und Supply Chain Management (in Unternehmen und bei öffentlichen Auftraggebern) bedeutet das: ehrliche Analyse des analogen Status quo mit allen Risiken; bewusstes Ausphasen von analogem Denken und Agieren in entsprechenden; (Er-)Klärung von Konsequenzen; Aufzeigen neuer Wege; Brainstorming mit internen Bedarfsträgern auf Augenhöhe; Challengen von Anbietern und Sichtung praktikabler Tools; Scannen von Märkten und Alternativen; professioneller Umgang mit Innovation; Erziehung und Ertüchtigung von Lieferanten; Definierung und Anpassung von Skills der Mitarbeitenden; Aufzeigen von beruflichen Perspektiven für Talente; Flexibilisierung von Arbeit, Arbeitsorten und Arbeitszeiten. Dabei gilt: keine Angst vor neuen digitalen Lösungen, etwa Business Intelligence als technologiegetriebenem Prozess. BI kann längst noch nicht alles, aber sie macht den Einkauf schon jetzt transparent, schnell, agil und Erfolge nachweisbar. BI verschafft dem Einkauf wesentliche Informationen, die das gesamte Unternehmen handlungssicherer und wettbewerbsfähiger machen. Dazu gehört es auch zu wissen, wann es in den diversen Projekten regional, national und global gefährlich bröckelt.

Nicht auf Politik warten

Braucht Deutschland also ein „souveränes“ Digitalministerium? Im Prinzip ja … Am Ende kommt es aber darauf an, was die Koalitionäre aus ihrer Entscheidung zeitnah ab- und einleiten. Wir haben keine Zeit mehr, auf Vorgaben und Konsequenzen zu warten. Im Prinzip ist jeder Einzelne gefordert. Grips und Verantwortungsbewusstsein sind nicht extern gesteuert, beides hängt nicht von politischen Bekundungen und tatsächlichem Wirken ab. Wer Unternehmen und Abteilungen führt, der muss auch unternehmen – ständig und vorausschauend.


Tobias Löwenthal,
Geschäftsführer, 4EBIT GmbH (Essen) .

www.4ebit.de

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