Nearshoring liegt in diesen unsicheren Zeiten voll im Trend. Der Einkauf setzt vermehrt auf kurze, stabile, transparente Lieferketten und schaut sich wieder mehr in Deutschland und Europa nach Lieferanten um. Auch manch juristisches Argument spricht für ein Nearshoring und gegen Global Sourcing. Denn die Rechtsordnungen anderer Länder bergen manchmal Überraschungen, mit denen man nicht unbedingt rechnet.
Ersatz für Investitionen
Die für die Beschaffungsseite gefährliche Situation tritt ein, wenn bei Vertragsverhandlungen die andere Seite Investitionen im Vertrauen darauf tätigt, dass der Vertragsschluss tatsächlich zustande kommt. Scheitern die Verhandlungen, werden die Aufwendungen als Schaden geltend gemacht und Ersatz des sogenannten Vertrauensschaden verlangt. Beispiel: Ein möglicher Zulieferer bestellt bereits vor Vertragsschluss Werkzeug, das speziell angefertigt werden muss, im festen Glauben daran, dass der Liefervertrag mit dem Interessenten geschlossen wird. Nachdem es doch nicht zum Abschluss kommt, fordert er die Kosten für die jetzt nutzlosen Spezialanfertigungen von der anderen Seite.
Negative Vertragsfreiheit
Die deutsche Rechtsordnung ist zurückhaltend beim Zuerkennen von derartigen Schadensersatzansprüchen. Zwar erkennt sie bereits im vorvertraglichen Stadium gegenseitige Schutzpflichten und bestimmte Verhaltenspflichten an. Doch sie misst eben auch dem Grundsatz der negativen Vertragsfreiheit hohe Bedeutung bei, sodass Parteien nicht nur frei darin sind, Verträge zu schließen, sondern auch darin, sie nicht zu schließen. Aufwendungen, die in der Erwartung des Vertragsschlusses getätigt werden, erfolgen also grundsätzlich auf eigene Gefahr.
„Bricht jedoch eine Partei die Vertragsverhandlung ohne triftigen Grund ab, nachdem sie in zurechenbarer Weise Vertrauen auf das Zustandekommen des Vertrages erweckt hat, kann eine Ersatzpflicht für getätigte Aufwendungen entstehen“, erläutert Rechtsanwalt Christoph Schmitt von der Düsseldorfer Kanzlei Hoffmann Liebs. An den triftigen Grund stelle die Rechtsprechung keine hohen Anforderungen. „Ein Compliance-Verstoß der anderen Partei oder schlichtweg ein besseres Angebot reichen aus“, sagt der Spezialist für nationales und internationales Vertragsrecht.
Vorvertragliches Verschulden vermeiden
Doch Vorsicht, Einkäufer sollten bei den Verhandlungen dennoch gewisse Grenzen nicht überschreiten. Auf keinen Fall darf ein Vertragsschluss als „sicher“ oder „reine Formsache“ in Aussicht gestellt oder der potenzielle Lieferant bereits zu relevanten Vorleistungen veranlasst werden. Erst recht nicht sollte die Durchführung des Vertrages bereits vor dem eigentlichen Vertragsschluss starten. Denn in diesen Fällen ist dann auch hierzulande ein solch starker Vertrauenstatbestand geschaffen, dass von einem vorvertraglichen Verschulden ausgegangen wird, das eine Ersatzpflicht auslöst.
Diese umfasst den konkreten Schaden der Gegenseite (das sogenannte negative Interesse), etwa Kosten für einen Berater, den diese zu den Vertragsverhandlungen hinzugezogen hat. Nicht umfasst sind hypothetische Verluste, etwa ein entgangener Gewinn, und erst recht besteht kein Anspruch auf den Abschluss des Vertrags.
Grenzüberschreitende Geschäfte
Heikler ist der Abbruch von Verhandlungen mit einem potenziellen Lieferanten im Ausland. „Bei Geltung einer ausländischen Rechtsordnung, insbesondere einer solchen aus dem angloamerikanischen oder asiatischen Rechtskreis, gelten aus Treuegesichtspunkten zum Teil sehr strenge Regelungen“, sagt Jurist Schmitt. „Diese können bis zur Verpflichtung des Ersatzes des gesamten eingetretenen Schadens oder gar der Verpflichtung zur Leistung eines sogenannten Strafschadensersatzes reichen, ohne dass tatsächlich ein solcher beim Verhandlungspartner entstanden ist.“ Die Haftungssummen sind nicht gedeckelt und erreichen in Einzelfällen siebenstellige Beträge.
UN-Kaufrecht wenig hilfreich
Mit dem UN-Kaufrecht, auch CISG genannt, steht eigentlich eine einheitliche Rechtsordnung zur Verfügung, die aktuell von annähernd 100 Vertragsstaaten auf der ganzen Welt akzeptiert wird. Man beachte: Das UN-Kaufrecht gilt immer dann – vorausgesetzt, es ist nicht ausdrücklich von den Verhandlungspartnern ausgeschlossen worden –, wenn ein grenzüberschreitender Kauf verhandelt wird und eine Partei in einem CISG-Vertragsstaat ansässig ist. Somit sind auch deutsche Unternehmen betroffen, die auf Beschaffungsmärkten im „CISG-Ausland“ agieren wollen.
Doch das CISG gibt keine eindeutige Antwort auf die Frage des Vertrauensschadens, konstatiert Christoph Schmitt: „Hier ist vieles umstritten hinsichtlich der Rechtsfolgen bei einem Abbruch der Vertragsverhandlungen – auch, ob eine allgemeine Treuepflicht aus dem CISG herauszulesen ist, die zu einer ähnlichen Rechtslage wie in Deutschland führt.“
Für alle rechtlichen Fragen, die das CISG offen lässt, springt das jeweilige nationale oder europäische Recht ein. Im Rahmen der Europäischen Union ist das die Rom-I-Verordnung, die wiederum Regelungen enthält, nach denen typischerweise das nationale Recht des Leistungserbringers – also des Verkäufers, des Lieferanten, des Vertriebshändlers – Anwendung findet. Der Einkäufer gerät bei Unachtsamkeit daher schnell in ausländisches Recht, etwa die rumänische, griechische oder polnische Rechtsordnung.
Letter of Intent
Rechtlich unverbindlich, zumindest nach deutschem Recht, ist der sogenannte Letter of Intent. Hier soll noch während der laufenden Verhandlungen die Ernsthaftigkeit der Gespräche und der Willen zum Abschluss des Vertrages dokumentiert, gleichzeitig aber das Hintertürchen offen gehalten werden, doch noch alles folgenlos abbrechen zu können. „Bei dem oft unstillbaren Bedürfnis von Kaufleuten, solche vorvertraglichen Erklärungen abzugeben, wird häufig übersehen, dass der Letter of Intent sorgfältig durch eine entsprechende rechtliche Gestaltung vom rechtsverbindlichen Vorvertrag abzugrenzen ist“, warnt Vertragsrechtsexperte Schmitt.
Denn wenn die Parteien tatsächlich frühzeitig im Rahmen eines Vorvertrags bindende Erklärungen abgeben wollen, führt das Nichteinhalten nach deutschem Recht zu einem Schadensersatzanspruch. Und dabei bewerten die Gerichte den Sachverhalt nach dem sogenannten Empfängerhorizont, also der Sicht des Verhandlungspartners, und nicht danach, was der Erklärende wirklich ausdrücken wollte. Keine gute Position aus Einkaufssicht.
LoI, MoU oder ItP – auf den Inhalt kommt es an!
Ob Letter of Intent (LoI), Memorandum of Understanding (MoU) oder Nomination Letter – es gibt viele Titel für eine Absichtserklärung im Vorfeld eines Vertragsschlusses. Doch nicht der Name, sondern der Inhalt des Dokuments zählt. Hier ist darauf zu achten, dass die Formulierungen keine Rechtsansprüche und Rechtsfolgen auslösen. Typischerweise enthalten solche Absichtserklärungen daher explizit eine No-Binding-Clause.
Etwas anders verhält es sich bei einer Instruction to Proceed (ItP). Sie hält in aller Regel nur die Modalitäten, Bedingungen und/oder den Ablauf von komplexeren Vertragsverhandlungen fest, auf die sich die Verhandelnden verständigt haben.