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Exoskelette in der Produktion: Heben und heben lassen

Exoskelette
Heben und heben lassen

Exoskelette helfen beim Heben, Tragen, Drücken und/oder bei Überkopfarbeiten. Das ist nicht nur komfortabel, das schont vor allem Muskeln und das Skelett – ein Beitrag zur Senkung des Krankenstandes.

Ich hab‘ Rücken“ – dieser Satz kostet Arbeitgeber in Deutschland jährlich rund 17 Mrd. Euro allein an Produktionsausfällen. Laut Bundesanstalt für Arbeitsschutz und
Arbeitsmedizin (BAuA) sind Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems (MSE) für rund
23 % aller Arbeitsunfähigkeitstage in Deutschland verantwortlich. MSE verursacht darüber hinaus jährlich knapp 23.000 Erwerbsminderungsrenten. Ein großer volkswirtschaftlicher Schaden – ganz abgesehen von den körperlichen Schmerzen der Betroffenen.

Als Ursache macht das BAuA vor allem körperliche Fehlbelastungen bei der Arbeit aus: zum Beispiel das Heben und Tragen schwerer Lasten, Fehlhaltungen oder langfristige Überanstrengung. Und das sind keine Einzelfälle: Laut einer Studie des European Working Conditions Survey (EWCS) bewegt jeder dritte Mitarbeiter während seiner Schicht schwere Gegenstände. Darüber hinaus müssen 42 % zumindest teilweise in schmerzenden oder ermüdenden Positionen arbeiten. 43 % der befragten Personen klagen über Rückenschmerzen – das sind unter dem Strich gut 259 Mio. europäische Erwerbstätige. Zwar helfen in vielen Einsatzbereichen Stapler,
Kräne oder inzwischen auch Roboter und Cobots – aber diese statischen Werkzeuge sind in der Praxis oft zu unflexibel und/oder in der Anschaffung unrentabel. Als möglicher
Königsweg werden derzeit Exoskelette diskutiert – zum Beispiel beim Heben schwerer Lasten im Logistikbereich oder für eine spürbare Entlastung in der Produktionsstraße.

Tragbares Werkzeug

Exoskelette sind quasi Maschinen zum Anziehen; deshalb werden sie auch Außenskelette oder Stützroboter genannt. Die am Körper
getragenen Strukturen reduzieren die Belastung sowie die Gefahr von Verletzungen.

Dabei wird zwischen aktiven und passiven Systemen unterschieden. Aktive Exos arbeiten mit Elektromotoren beziehungsweise mit pneumatischen Systemen, die eine externe Kraftunterstützung bieten. Damit stehen dem Träger gewaltige Kraftreserven zur Verfügung – allerdings zu Lasten eines deutlich höheren Eigengewichts. Motoren und Energieversorgung summieren sich schnell auf mehr als zehn Kilo. Zudem begrenzen die eingesetzten Akkus zwangsläufig den Betrieb. Nach der Schicht muss das System geladen werden und steht damit eine geraume Zeit nicht zur Verfügung.

Passive Alternativen unterstützen den Träger ausschließlich durch mechanische Hilfsmittel – beispielsweise Feder- oder Seilzugsysteme. Sie fangen die auftretenden Belastungen durch Gegenkräfte ab. Gerade beim Heben schwerer Lasten kann das den Arbeiter um bis zu 40 % entlasten.

Beispiel für ein aktives System ist das Exoskelett des Augsburger Unternehmens German Bionic, welches auf der diesjährigen Hannover Messe bereits die dritte Generation von „Cray X“ vorgestellt hat. Es wird durch ein Gurtsystem am Rücken und Oberschenkel befestigt. Im Rückenteil sitzen die Steuerung und der Akku, die Motoren arbeiten in zwei Gehäusen auf Hüfthöhe. Ein Sensor erkennt, wenn der Arbeiter eine Bewegung einleitet und aktiviert die jeweiligen Motoren. Sie helfen beim Tragen, Aufrichten oder auch beim Arbeiten in gebeugter Stellung. „Der Träger wird im unteren Rücken bis zu 20 Kilogramm entlastet“, erläutert Norma Hoeft, Leiterin des Bereichs Internet der Dinge (IoT) bei German Bionic. Aktive Systeme werden derzeit in mehreren Großbetrieben getestet, so bei
Audi und MAN oder bei Logistik-Unternehmen wie DHL. Bis zum großflächigen Einsatz wird es allerdings noch Jahre dauern – aktive Systeme greifen bisher nur in Testprojekten ein. „Die bisherigen Tests haben gezeigt, dass die Technik der aktiven Modelle noch in den Kinderschuhen steckt und Anforderungen, die wir an unseren Arbeitsplätzen vorfinden, nicht erfüllt“, meint Detlev Ruland, Mitglied des DHL-Bereichsvorstands für die Paket-, Post und Online-Handelsdienste.

Passive Lösungen sind bereits weiter verbreitet. Sie sind naturgemäß leichter, flexibler – bieten allerdings auch nicht so starke Unterstützung. Die Bandbreite ist groß: Das kleinste Exoskelett der Welt stammt beispielsweise von Ottobock und schützt Daumenkuppen vor mechanischer Überlastung. Sie kommen beispielsweise in der Automobilproduktion zum Einsatz, wo Arbeiter mit hoher Kraft Stopfen in Karosserieöffnungen drücken müssen – auf Dauer eine Tortur für Daumen und Gelenke. Etwas größer ist „Paexo“ vom gleichen Hersteller. Dieses System wiegt knapp zwei Kilo und wurde speziell für Überkopfarbeiten entwickelt, die primär Schultern und Oberarme belasten. Das Prinzip: Mithilfe von Seilzügen wird die Belastung über die Schulterpartie und den Rücken in die Hüfte abgeleitet. 30 Volkswagen-Mitarbeiter haben in Bratislava „Paexo“ bereits getestet – 80 % der Anwender waren zufrieden und empfehlen das System weiter. Ein anderes Hilfsprinzip verfolgt das Schweizer Start-up Noonee. Der „Chairless Chair“ hilft Mitarbeitern in der Produktion, sich hinzusetzen – ganz ohne Stuhl. Das Gerät besteht in diesem Fall aus
einem Plastikteller unter dem Gesäß des
Trägers, aus dem zwei künstliche Beine ragen. Damit kann sich der Benutzer ungehindert bewegen und bei Bedarf jederzeit entlastend sitzen.

Lohnt die Anschaffung?

Exoskelette sind sinnvoll, wo Arbeit zwangsweise zur Überlastung führt und andere Hilfsmittel aus funktionalen oder wirtschaftlichen Aspekten nicht infrage kommen.
Cobots beispielsweise kosten durchschnittlich zwischen 15.000 und 30.000 Euro. Da kommt ein passives Exoskelett deutlich günstiger: Der einzelne Chairless Chair ist für 3.750 Euro zu haben. Ottobock beziffert den „Paexo“ mit rund 5.000 Euro. Zu den Listenpreisen kommen freilich gegebenenfalls die Kosten für individuelle Anpassungen an die jeweilige Produktionsumgebung.

Die Anschaffungskosten dieser Spezialausrüstung schrecken sicherlich manche Unternehmen ab, sich flächendeckend für Exoskelette zu entscheiden. Demgegenüber stehen Einsparungen durch weniger Fehltage. Die Kosten für einen Krankheitstag betragen bei einem Mitarbeiter mit einem Durchschnittseinkommen in der Produktion bis zu 200 Euro. Dazu kommen Wertschöpfungsausfälle plus Ersatzkosten für weiteres Personal. Zieht man diese Zahlen in Betracht, relativieren sich die Investitionen. Dementsprechend prognostiziert eine Studie von ABI Research im Jahr 2025 ein potentielles Marktvolumen von 1,8 Mrd. Dollar. Es gibt allerdings noch weitere Argumente für die innovativen Hilfsmittel: Fachkräftemangel und demographischer Wandel. Bei steigender Lebenserwartung und einer alternden Belegschaft können Exoskelette dafür sorgen, dass Mitarbeiter nicht nur länger gesund bleiben, sondern auch überhaupt länger arbeiten können.


Michael Grupp

Freier Redakteur in Stuttgart

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